Raus aus der eigenen Blase

Sahra Wagenknecht hat es schon wieder getan. Das dürften viele Linke gedacht haben, als Anfang Oktober ein gemeinsames Interview mit der AfD-Chefin Frauke Petry in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) erschien. Wagenknecht hat in diesem Jahr mehrmals für Ärger unter Linken gesorgt, etwa als sie nach der Silvesternacht von Köln vom verwirkten »Gastrecht« und mit Bezug auf die Flüchtlingszahlen von »Kapazitätsgrenzen« sprach oder als sie nach dem Anschlag von Ansbach eine mangelnde Handlungsfähigkeit der Sicherheitsbehörden suggerierte. Vor diesem Hintergrund fühlten sich viele linke Wagenknecht-Kritiker_innen in ihrer Einschätzung bestätigt, sie würde am rechten Rand fischen.

Wessen zentrale Informationsquelle Facebook oder Twitter ist und wer sich dann dort in einer Filterblase betont »undogmatischer« und »emanzipatorischer« Linker wiederfindet, stieß vor allem auf zwei häufig geteilte Artikel zum FAS-Doppelinterview. Für die Wochenzeitung Die Zeit musste mal wieder eine extremismustheoretische Interpretation eines Gedichts des Dichters Ernst Jandl herhalten (»Lechts und rinks kann man nicht verwechseln«), die taz titelte gar: »Ein rechtes Konsensgespräch«. Entsprechend die vorherrschende Ansicht empörter linker Wagenknecht-Feinde in der Filterbubble: Die Chefin der LINKEN-Bundestagsfraktion trage erstens dazu bei, die AfD zu normalisieren, und vertrete zweitens ähnliche Positionen.

Beide Kritikpunkte schlagen fehl. Es stellt sich nicht mehr die Frage, durch was man die neue rechte Partei »diskursfähig« macht. Nicht schön, aber wahr: Die AfD ist längst »angekommen«. Wagenknechts Beitrag zur Normalisierung der Rechten dürfte angesichts unzähliger Talkshowauftritte von Petry und Co., den ersten Unionspolitiker_innen, die über künftige Koalitionen mit der AfD nachdenken, und dem Rechtsschwenk vieler konservativer Medien eher gering sein. Gerade wenn Vizechef Alexander Gauland und Petry mit dem durchsichtigen Ziel, Deklassierte und Arbeiter_innen an sich zu binden, die Nähe zur Linkspartei betonen, ist eine Abgrenzung umso nötiger. Außerdem: Die AfD bezieht ihre Stärke auch daraus, dass sie sich als einzige »echte« Opposition präsentiert, die deshalb von den Etablierten ausgegrenzt werde. Eine Strategie, die auf Verbannung und Ausgrenzung setzt, ist wesentlicher Treibstoff für den Motor der AfD. Das heißt im Gegensatz gewiss nicht, dass die Rechten eingebunden werden müssen oder ihnen einfach ein Raum zur Verfügung gestellt werden soll, damit sie ihre Thesen ausbreiten können. Geboten ist hingegen die offensive und kompromisslose Auseinandersetzung.

Das tut Wagenknecht in besagtem Doppelinterview an einigen Stellen. Sie wehrt die Avancen der um Annäherung bemühten Petry ab und lässt sich auch nicht von den Suggestivfragen der beiden FAZ-Journalisten beirren. Unmissverständlich etwa ihre Aussage: »Die AfD will einen schwachen Sozialstaat, niedrige Löhne und Renten, ein ungerechtes Steuersystem und ist nationalistisch und in Teilen rassistisch.« Die Taktik Wagenknechts, die neoliberale und unsoziale Programmatik der AfD in den Vordergrund zu rücken, ist richtig. Man kann nicht oft genug betonen: Die AfD hat entgegen ihrer Vermarktungsstrategie den einfachen Lohnabhängigen und Erwerbslosen, selbst den autochthonen, nicht viel zu bieten.

Was in der linken Filterblase kaum Thema war: die Frage, wer eigentlich Teil eines linken Projekts sein soll. Diplomatisch ausgedrückt: Flüchtlinge gehören nicht gerade zu Wagenknechts Zielgruppe. Das zeigt sich etwa, wenn sie wie im Interview davon spricht, dass viele Flüchtlinge im Niedriglohnsektor die Löhne drücken werden. Zu Recht weist sie darauf hin, dass die von der Kapitalseite erwünschte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt gerade für Prekäre ein reales, materielles Problem werden könnte. Doch der Teufel steckt hier im Detail: Es sind nicht Geflüchtete, sondern Unternehmer, die aus Migration Profit schlagen wollen. Nicht Flüchtlinge, sondern das deutsche Exportkapital forderte vergangenen Herbst, den Mindestlohn für Flüchtlinge auszusetzen – und die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt anzuheizen. Das weiß Wagenknecht natürlich auch, nur verzichtet sie darauf, diese Differenz deutlich zu machen. Wie bei der »Fremdarbeiter«-Debatte um Oskar Lafontaine im Sommer 2005 geht es auch hier nicht um Wortklauberei, sondern darum, wer durch die Aussagen angesprochen werden soll – und wer nicht.

Wagenknecht sorgt sich in erster Linie um die einheimischen »kleinen Leute«, der Sozialstaat soll sich zunächst mal um »seine Leute« kümmern. Folgerichtig auch ihre ständigen Bezüge auf die »Gründungsväter der Sozialen Marktwirtschaft«, die für einen starken Staat plädieren, der der Wirtschaft Regeln setzt und soziale Sicherheit garantiert. Als Fluchtpunkt aus dem kosmopolitischen Neoliberalismus zieht sie gerne die biedere Klassengesellschaft des Rheinischen Kapitalismus der Nachkriegszeit heran. Dass dieser ein wirklicher Segen wäre, scheint sie mittlerweile selbst zu glauben. In ihren Büchern preist sie die Eigeninitiative, den Wettbewerb, das selbst erarbeitete Eigentum.

Nur: Sahra Wagenknecht vertritt damit weniger eine »rechte« als vielmehr eine klassisch sozialdemokratische Position. Falsch bleibt diese trotzdem. Eine Wiederherstellung des »Klassenkompromisses« der Nachkriegsjahre ist weder realistisch noch erstrebenswert. Das »goldene Zeitalter« des Kapitalismus ist vorbei: Die damalige verhältnismäßig gute Verhandlungsposition der Arbeiterklasse im kanalisierten Klassenkampf basierte auf einer spezifischen ökonomischen und politischen Situation. Doch auch damals kamen längst nicht alle in den Genuss der sozialen Sicherheit: Im weiß-männlichen Ernährermodell machten Frauen den Abwasch und Arbeitsmigrant_innen die Drecksarbeit. Auch darauf fußte die privilegierte Stellung des eingebundenen Industrieproletariats.

Im Kampf gegen den Neoliberalismus, der ab den 1970er Jahren als Konterrevolution gegen die Errungenschaften der klassischen Arbeiterbewegung seinen Siegeszug antrat, muss deutlich werden, dass es nicht das Ziel ist, der einstigen Arbeiteraristokratie ihre privilegierte Rolle wieder zu verschaffen. Das wäre letztlich eine exklusive Klassenpolitik, die mit Wunsch und Wirklichkeit nichts zu tun hat.

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Erschienen in ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 620 / 18.10.2016.