Zeigen was ist: In Berlin schloss Milo Rau mit dem Stück »Empire« seine Europa-Trilogie ab

Alle lachen herzlich, als Akillas, ein sympathischer Grieche um die 60, erzählt, wie er als Siebenjähriger von seiner Mutter beim Onanieren erwischt wurde. Es ist ein geselliger Abend am Küchentisch: Akillas, Rami, Maia und Ramo tauschen Erlebnisse aus der Kindheit aus, schöne und schreckliche. Je später der Abend, desto schwermütiger. Irgendwann klickt der Syrer Rami durch Dutzende Leichenbilder. Fotos ermordeter Menschen aus den Folterkellern Assads. Anfänglich kommentiert er noch die Bilder, irgendwann blickt er nur noch stumm auf die Leichen. Rami musste aus Syrien fliehen, arbeitete dann in Paris bei einem syrischen Exilradio. Im Zuge der Suche nach seinem verschollenen Bruder stieß er auf die Website eines Überläufers des Assad-Regimes, der 12.000 Bilder gefolterter und ermordeter Menschen veröffentlichte. Er hat sich jedes einzelne Bild angesehen – in der der Hoffnung, seinen Bruder zu finden, damit er endlich abschließen, Abschied nehmen kann. Während wir entsetzt auf ein weiteres Bild starren, stoppt er kurz, dreht seinen Kopf in unsere Richtung. Stille.

Die Küche befindet sich nicht in einer Künstler-WG in einem Szenestadtteil einer europäischen Metropole, sondern auf der Bühne der Berliner Schaubühne. Das Setting ist nicht echt, die vier Schauspieler_innen sind es schon. Das Publikum betrachtet tatsächliche Leichenbilder. Rami ist Rami Khalaf, die Geschichte, die er erzählt, ist seine, Akillas Karazissis wurde tatsächlich als Siebenjähriger beim Wichsen erwischt. Auch die beiden anderen, die am Küchentisch sitzen, erzählen aus ihrem Leben: Maia Morgenstern, Leiterin des Jüdischen Theaters in Bukarest, und der Kurde Ramo Ali, der aus seiner Heimatstadt Kamischli in Rojava fliehen musste.

Doch die vier Personen sind zugleich professionelle Schauspieler_innen. Nur manchmal, etwa wenn Maia Morgenstern an der genau richtigen Stelle eine Träne verdrückt, erinnert man sich, in einem Theater zu sitzen – in dem Stück »Empire« des Schweizer Regisseurs Milo Rau.

»Empire« ist typisches dokumentarisches Theater. Mit dieser Form hat Milo Rau in den vergangenen Jahren für Furore gesorgt. So auch mit den beiden ersten Teilen einer Trilogie, deren Abschluss »Empire« ist. Es geht um Europa – um den Mythos und die Realität. »The Civil Wars«, der erste Teil der Trilogie, handelte von Europäer_innen, die in den Mittleren Osten ziehen und für den IS kämpfen wollen, Teil zwei, »The Dark Ages«, von den innereuropäischen Kriegen. Jetzt stehen der Verlust nahestehender Menschen, erzwungene Abschiede und Neustarts, Krieg, Folter, Flucht im Zentrum.

Die Grenzen Europas sind nicht so einfach zu ziehen. Die beiden Flüchtlinge aus Syrien gehören nicht nur deshalb mit in eine Europa-Trilogie, weil sie jetzt hier leben. Wie Rau in einem Interview kürzlich offenlegte, hat er noch etwas anderes vor Augen: die »zerstörerische historische Realität Europas« und die Mitverantwortung für die Krisen und Kriege in dieser Welt. So erinnert er an das Sykes-Picot-Abkommen vor 100 Jahren, bei dem Großbritannien und Frankreich das kurdische Gebiet auf drei Ländern verteilten.

Das dokumentarische Theater funktioniert – und geht tief unter die Haut. Plötzlich, fast am Ende des Stücks, als das Publikum zu allen Schauspieler_innen bereits eine fast freundschaftliche Vertrautheit aufgebaut hat, zeigt Milo Rau dem anwesenden Bildungsbürgertum seinen Platz in der Welt auf. Ramo berichtet von seinem Cousin. Bei dem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, starben seine Kinder und seine Frau.

Rau schafft es, diese Realität einzufangen, er erhebt an den richtigen Stellen die Stimme, schreit aber nie – und unterlässt es, den moralischen Zeigefinger zu erheben. Das theateraffine Bildungsbürgertum soll sich nicht schämen, sondern seine Position in den globalen Herrschaftsverhältnissen erkennen. Wie im Vorbeigehen zertrümmert er mit »Empire« das letzte Fünkchen Hoffnung auf Europa. Das Europa, in dem wir leben, befindet sich im Umbruch. Es wird keine Geschichte mit Happy End. Im Gegenteil: Es ist eine Tragödie.

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Erschienen in ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 619 / 20.9.2016.