Der zerfetzte Pappkamerad. Die Flugschrift »Jenseits von Interesse und Identität« scheitert beim Versuch, die Debatte um Klasse und Linkspopulismus voranzubringen

Es gibt einige nützliche sprachliche Werkzeuge, um den eigenen Punkt zu verstärken. Ein Topseller im Rhetorik-Baumarkt ist das Strohmann-Argument. Du verkürzt und überhöhst die Gegenposition, damit sie am besten zu deinem Argument passt. Die Gegenposition ist nicht mehr als ein Pappkamerad. Ein beliebter Pappkamerad scheint momentan die Klassenpolitik zu sein. Besonders auf Facebook, wo die Debatte unter Linken in den vergangenen Monaten historische Niveautiefstände erreicht hat, projizieren einige »emanzipatorische« Linke allerlei Negatives auf die Neue Klassenpolitik.

Auch in der Flugschrift »Jenseits von Interesse und Identität« begegnet den Leser_innen ein verzerrtes Bild. Es gebe eine »Vielzahl von Interventionen, die dem objektiven Ernst der Lage mit dem Versuch begegnen, die soziale Wirklichkeit in das Korsett des 20. Jahrhunderts zu zwängen«. Die Wortführer_innen der Klasse würden gegen Identitätspolitik schreien und Hauptwiderspruch kreischen. Wen Mezzadra und Neumann als die Schreihälse ausgemacht haben, behalten sie für sich. Sie belassen es bei Andeutungen. Insider ahnen, dass sie sich vor allem an Sahra Wagenknecht abarbeiten.* Was nicht so recht ins Bild passen will: Befürworter_innen von Klassenpolitik und Linkspopulismus haben den Ansatz der LINKEN-Politikerin vielfach kritisiert. (ak 620 und 625)

Diejenigen, die sich in sozialen Bewegungen, Linkspartei, Rosa Luxemburg Stiftung, Gewerkschafts- oder autonomem Spektrum positiv auf eine »Neue«, »emanzipatorische« oder »intersektionale« Klassenpolitik beziehen, haben eine Prämisse gemeinsam: Eine Klassenpolitik auf Höhe der Zeit darf eben nicht »alte« Klassenpolitik sein. So lautet entsprechend die zentrale Mindestanforderung der ak-Serie, Geschlechterverhältnisse, Rassismus und globale Ungleichheit nicht hinter die Klassenverhältnisse zu stellen. »Im Gegenteil: Kämpfe des Feminismus, des Antirassismus und des linken Antiimperialismus sind ihr Ausgangspunkt.« (ak 627) Mezzadra und Neumann betonen mehrmals, dass Klasse politisch hergestellt wird, »dass die Produktion des Gemeinsamen eine Bedingung jeder Klassenpolitik ist«. Dieser Erkenntnis, so wahr sie auch ist, dürfte ebenfalls kaum jemand widersprechen.

Das zweite große Thema des Buches ist der Linkspopulismus. Die Lesenden erfahren bereits in der Einleitung: Klassenpolitik = Linkspopulismus. Für die Gleichsetzung brauchen die Autoren auf der zweiten Seite ihrer Einleitung keinen Beleg, nicht einmal einen Absatz. Der Zusammenhang wird schlicht nicht erklärt. Auch hier begegnen wir wieder einem Pappkameraden. Mezzadra und Neumann ignorieren die Unterschiede zwischen genannten Akteur_innen Neuer Klassenpolitik. Im Umfeld der Linkspartei und der Rosa Luxemburg Stiftung diskutieren die Vertreter_innen Klassenpolitik über eine »verbindende Partei«, Linkspopulismus oder »populare Kräfte«. Andere setzen fern der Partei auf Basis- und Selbstorganisation in Stadtteilen, wiederum andere versuchen auszuloten, wie transnationale Arbeitskämpfe organisiert werden können. Wer die Debatte um Klassenpolitik auf Linkspopulismus festschreibt, übersieht, dass es nicht um konkrete politische Formen geht, sondern um eine übergeordnete strategische Perspektive.

Die Diskussion um Neue Klassenpolitik ist längst nicht abgeschlossen. Unzählige offene Baustellen müssen intensiver bearbeitet werden. Eine zentrale Frage ist erst durch die Diskussionen der vergangenen Monate und Jahre identifiziert worden: Können Klassen- und Identitätspolitik vereint werden – oder schließen sie sich aus? Bereits im Titel versprechen Mezzadra und Neumann Denkanstöße zu liefern. Doch ihr Kampf gegen einen Pappkameraden liefert leider keine neuen Erkenntnisse.

Das wäre zu verschmerzen, wenn die Flugschrift wenigstens schön zu lesen wäre. Doch die Autoren schreiben fast durchgehend in der unbestimmten Passivform, reihen Nominalkette an Nominalkette und greifen viel zu häufig auf die in der Akademie üblichen Metaerläuterungen zurück. Außerdem verzetteln sich Mezzadra und Neumann mehrmals bei Querverweisen, ohne den Bezug zu ihrer Argumentation zu erläutern. Beispiel gefällig? »Klar, Lenins kommunistische Wette war schließlich verloren, denn die Verwandlungen des Glücks, um es in der Sprache von Machiavelli auszudrücken, wendeten sich gegen die bolschewistische Tüchtigkeit was kein Grund dafür ist, die Radikalität jener Wette nicht als wesentlichen Teil unserer Geschichte in Anspruch zu nehmen.« Klingt aus dem Zusammenhang gerissen. Ist es aber nicht, denn: Es gibt keinen. Es ist der erste Satz eines Kapitels, darauf folgt ein Satz, der vielsagend beginnt mit »Aber abgesehen davon«. Wer noch nie etwas vom Begriff der kommunistischen Wette gehört hat, klappt das Buch vielleicht schon an dieser Stelle zu. Es wäre nicht die schlechteste Entscheidung.

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Erschienen in ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 633 / 12.12.2017.