Ideologische Klammer (Rezension)

Selbst der Urahn des Neoliberalismus, Friedrich August von Hayek, wußte genau, daß individueller Einsatz keineswegs zwangsläufig Früchte trägt. Bemerkenswert deutlich beschreibt Hayek im zweiten Band seines Hauptwerks »Recht, Gesetzgebung und Freiheit« (1979) das Dilemma, »bis zu welchem Ausmaß wir in jungen Menschen den Glauben bestärken sollten, daß sie Erfolg haben, wenn sie es wirklich versuchen, oder eher betonen sollten, daß unvermeidlich einige, die es nicht verdienen, Erfolg haben und einige, die ihn verdienten, scheitern werden«. Zur Leistungsideologie ist somit alles gesagt, könnte man meinen. Doch trotz ihrer offensichtlichen Defizite hält sie sich beständig und funktioniert als ideologische Klammer, die die Klassengesellschaft zusammenhält. Mit dieser Klammerfunktion hat sich Lars Distelhorst in dem gerade erschienenen Essay »Leistung. Das Endstadium der Ideologie« auseinandergesetzt.

Zunächst analysiert der Sozialwissenschaftler den entsprechenden Diskurs in Philosophie, Wirtschaft und Politik. Er zeigt auf, wie diejenigen, die lauthals nach Leistung brüllen, nicht in der Lage sind, den Begriff inhaltlich zu füllen und trotzdem »Leistungsgerechtigkeit« allgemein zur gesellschaftlichen Norm erklären, die gestärkt oder wiederhergestellt werden müsse.

Wie kann es aber sein, daß alle von etwas sprechen und dennoch unklar ist, was genau gemeint ist? Distelhorst zufolge liegt das an der Substanzlosigkeit des Begriffs selbst, denn Leistung sei schlicht nicht meßbar. Hier übersieht der Autor, daß sich die Unbestimmtheit in erster Linie aus der Vielzahl der Meßgrößen ergibt. Bereits vor knapp zehn Jahren arbeiteten Arbeits- und Industriesoziologen um Sighard Neckel die Bedeutungskrise des Begriffs heraus. Die Forscher zeigten die unterschiedlichen Auffassungen in der Gesellschaft auf und machten zugleich eine Tendenz aus: Vor allem Angehörige höherer Schichten sind in der Lage, ihre auf individuelle Selbstverwirklichung und wirtschaftlichen Erfolg abzielenden Leistungsbegriffe zu verallgemeinern. Solche Ergebnisse werden in dem Essay nicht berücksichtigt.

Dennoch ist die erste Hälfte des Buches durchaus lesenswert. Enttäuschend fällt indes die zweite aus, in der es um die Frage nach den Voraussetzungen des gegenwärtigen Leistungsdiskurses geht. Zu ihrer Beantwortung holt sich der Autor Unterstützung aus der Psychoanalyse, von Marx sowie von den postmodernen Hegemonietheoretikern Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Neben einigen verzichtbaren Umschweifen und Redundanzen ist es vor allem seine Analyse des Kapitalismus, die nicht überzeugt.

Der Kapitalismus ist Distelhorst zufolge schlicht ein schwarzes Loch: Alles werde von ihm eingesogen, wodurch sukzessive jede Bedeutung verlorengehe. Gesellschaft und Individuen würden in den durch die Ökonomisierung hervorgebrachten leeren Zirkulationsbewegungen zunehmend ausgehöhlt. Leistung sei in einer Welt, in der nichts mehr eine Bedeutung habe, so etwas wie eine letzte Orientierungsmarke. Was in einem solchen Kapitalismusverständnis völlig verlorengeht, ist das der kapitalistischen Produktionsweise zugrunde liegende soziale Verhältnis: Ein gesellschaftlicher Antagonismus ist für den Autor schlichtweg inexistent, wenn er sehr schematisch diagnostiziert, in der Dienstleistungsgesellschaft sei die Arbeiterklasse verschwunden. Vielmehr würden mehr und mehr Menschen über Kapital verfügen, so daß im Grunde heute fast alle Kapitalisten seien. Das führe zu einer Beseitigung des Klassengegensatzes, denn der Kapitalismus zwinge alle Menschen als Kapitalisten, als Unternehmer ihres Selbst zu agieren. Distelhorst geht hier der Ideologie auf den Leim, die er eigentlich kritisieren will. Im ökonomischen Sinne sind die wenigsten derjenigen, die sich am allgegenwärtigen Leitbild des »unternehmerischen Selbst« orientieren, tatsächliche Unternehmer oder gar im Marxschen Sinne Kapitalisten. Im Gegenteil: Die allermeisten Dienstleister arbeiten unter prekären Bedingungen. Da muß man sich nicht mal zuerst die Arbeit in den Versandzentralen bei Amazon oder in Callcentern vergegenwärtigen.

Es überrascht daher nicht, wenn im Buch die Antwort auf die Frage, was zu tun sei, äußerst dünn ausfällt. Gemäß einem richtig verstandenen Nihilismus sollten die Glaubens- und Wissenssysteme abgelehnt werden, um empfänglich zu sein für irgend etwas fern der Leistungsideologie, so der allgemein gehaltene Appell im Schlußkapitel. »Die Offenheit für das andere verhilft uns zu einer Neuorientierung auf kommende Utopien und zukünftige Formen von Gesellschaft.« An vorhandenen Vorstellungen einer anderen Gesellschaft möchte sich Distelhorst trotz einer zaghaften Bezugnahme auf das Kommunistische Manifest im letzten Absatz freilich nicht orientieren.

Lars Distelhorst: Leistung. Das Endstadium der Ideologie, Bielefeld, Transcript Verlag 2014, 192 Seiten, 22,99 Euro.

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Erschienen in Junge Welt, 25.8.2014.