Kleinbürgertum oder kleiner Mann? Im aktuellen Führungsstreit geht es auch um die Frage, wer Kernklientel der AfD ist

Seit der Gründung der AfD hat sich einiges in der Partei getan. Aktuell tobt ein Machtkampf zwischen den drei Flügeln, dessen Ausgang zum jetzigen Zeitpunkt völlig offen ist. Dabei geht es neben inhaltlichen und persönlichen Fragen auch um die strategische Ausrichtung der Partei. Speziell in der Frage, welche Klassen und Klassenfraktionen angesprochen werden sollen, herrscht Uneinigkeit zwischen den Flügeln.

Die AfD war einst angetreten, um das reaktionäre Kleinbürgertum zu einen. Man gab sich moderat wertkonservativ und vertrat ein nationalneoliberales Wirtschaftsprogramm. Mit Erfolg. Wahlanalysen zu den Bundestagswahlen 2013, den Wahlen zum Europaparlament im Mai 2014 sowie den im Sommer 2014 stattgefundenen Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg zeigen, dass genau diese Klien­tel angesprochen wurde: Männlich, unter 45 Jahre, (Fach-)Arbeiter oder selbstständig und sich der Mittelschicht zugehörig fühlend. Außerdem verdiente der ursprüng­liche typische AfD-Wähler überdurchschnittlich gut und war eher vermögend. Darauf deuten verschiedene Studien hin. „Kleinbürgertum oder kleiner Mann? Im aktuellen Führungsstreit geht es auch um die Frage, wer Kernklientel der AfD ist“ weiterlesen

Fremdenfeinde haben viele Facetten: Rassisten sind längst nicht nur dumpf und prollig auf der Straße anzutreffen, sondern auch in der Politik und den Behörden

Seit Wochen gehen in Freital Neonazis, Hooligans und besorgte Normal-Rassisten gegen eine Flüchtlingsunterkunft auf die Straße. Auf den Kundgebungen der Flüchtlingsgegner sind unverhohlene »Ausländer raus«-Rufe zu vernehmen, und es wurden in der sächsischen Kleinstadt bereits Flüchtlinge von herumziehenden Neonazis verprügelt. Auch auf einer Bürgerversammlung, die am vergangenen Montag stattfand, gab es Anwesenden zufolge tumultartige Szenen. Diejenigen, die für Empathie mit den Flüchtlingen warben, wurden niedergebrüllt, während es immer wieder großen Applaus für Heimgegner gab. „Fremdenfeinde haben viele Facetten: Rassisten sind längst nicht nur dumpf und prollig auf der Straße anzutreffen, sondern auch in der Politik und den Behörden“ weiterlesen

Efter Pegida: kraftiga högervindar blåser i Tyskland

Översättning från tyska: Timo Menke 

Skärskådar man Pegida mot bakgrund av de senaste årens utveckling i Tyskland framträder bilden av en ny höger som håller på att bildas. En höger som kan placeras någonstans mellan nynazistiska och etablerade konservativa miljöer. Forskaren och journalisten Sebastian Friedrich analyserar utvecklingen i Tyskland. „Efter Pegida: kraftiga högervindar blåser i Tyskland“ weiterlesen

Kultur statt Klasse: Zu den ideologischen Funktionen des Antimuslimischen Rassismus in Deutschland

Von Sebastian Friedrich und Inva Kuhn

Als im Herbst 2014 Tausende in Dresden gegen die angebliche Islamisierung des Abendlandes marschierten, war die Aufregung groß. Von Bild bis taz, von Tagesschau bis RTL aktuell, von Bundeskanzlerin Angela Merkel bis BDI-Präsident Ulrich Grillo sorgte man sich angesichts der rassistischen Mobilisierungswelle. Medien übertrafen sich darin, die in Dresden verbreiteten Thesen zu widerlegen und Politik wie Wirtschaft wurden nicht müde zu betonen, dass Deutschland weltoffen sei und (nützliche) Einwanderung benötige. Eine Frage kehrte immer wieder: Wie konnte Pegida so schnell so viele Menschen anziehen? Es liege an Dresden, meinten manche. Andere beschuldigten die DDR, die Bevölkerung zu dumpfen Rassist/innen erzogen zu haben. Warum es aber gerade das Ticket Islam und Muslime war, das Pegida für sich nutzte, wurde kaum diskutiert.

Antimuslimischer Rassismus ist in Deutschland nicht erst seit den Demonstrationen in Dresden oder dem Aufstieg der AfD virulent. Seit den 1990er Jahren wird regelmäßig über „Hassprediger“, „Schläfer“, „Parallelgesellschaften“, „Kopftuchmädchen“, „Integrationsverweigerer“ und „muslimisch geprägte Problembezirke“ diskutiert. Jahrelang befeuerten Teile der offiziellen Politik und weite Teile der gleichen Medien, die sich seit Herbst so besorgt zeigen, ein Klima des Misstrauens und der Ablehnung gegenüber muslimischem Leben in Deutschland.

Grund genug, sich also noch einmal der Entstehung sowie der Merkmale und Erscheinungsformen des Antimuslimischen Rassismus zu widmen. Einen Schwerpunkt legen wir dabei auf die ideologische Funktion bezogen auf sozial- und bildungspolitische Themen. Da sich auch bei antirassistischen Linken manches Mal eine gewisse Ratlosigkeit breit macht, wie dem Antimuslimischen Rassismus der extrem Rechten, aber auch der „Mitte“, begegnet werden kann, wollen wir davon schließlich Grundzüge eines antikapitalistischen Verständnisses von Antirassismus skizzieren. „Kultur statt Klasse: Zu den ideologischen Funktionen des Antimuslimischen Rassismus in Deutschland“ weiterlesen

Die Agonie eines rechten Projekts: Der Führungsstreit in der AfD eskaliert und könnte die Partei entzweien

Kaum waren die Bürgerschaftswahlen in Bremen beendet, da rief Bernd Lucke zum letzten Gefecht in der Alternative für Deutschland (AfD). In einem Brief an alle Parteimitglieder bekundete er seine Sorge um die Partei. Die AfD sei gespalten: Denen, die sachorientiert kritisieren, aber sich auf dem Boden der wesentlichen Grundsatzentscheidungen der Bundesrepublik Deutschland befinden, stünden diejenigen gegenüber, die die Systemfrage stellen und sich »neutralistisch, deutschnational, antiislamisch, zuwanderungsfeindlich, teilweise auch antikapitalistisch, antiamerikanisch oder antietatistisch« äußern. Luckes offene Kampfansage: Der Konflikt müsse entschieden werden, auch wenn das zu Mitgliederverlusten auf der einen oder anderen Seite führen würde.

Was Lucke geflissentlich unterschlägt: Er war es, der die Partei einst strategisch nach rechts ausgerichtet hat. Knapp zwei Monate vor der Bundestagswahl 2013 schrieb Lucke an seine Vorstandskollegen Alexander Gauland und Konrad Adam eine aufschlussreiche Mail, deren Wortlaut Der Spiegel zum Teil veröffentlichte. Gegenüber seinen heutigen erbitterten Kontrahenten forderte er einen Tabubruch, um den bis dahin schleppend laufenden Wahlkampf ein wenig in Fahrt zu bringen. So schlug er vor, Thilo Sarrazin zu vereinnahmen. Das könne viel Aufmerksamkeit, Kritik der linken Presse und viel Zuspruch in der Bevölkerung einbringen. Die mittlerweile aus der AfD ausgetretene Michaela Merz konnte die offene Werbung mit und für Sarrazin damals im Bundesvorstand verhindern. Rückblickend schreibt sie Lucke bei der Öffnung nach rechts eine Schlüsselrolle zu: »Er ist maßgeblich für die spätere Entwicklung verantwortlich, da er die Partei bewusst dem rechten und rechtspopulistischen Rand geöffnet hat.« Die Zusammensetzung der AfD veränderte sich nachhaltig: Die rechten Flügel wurden in der Folge immer mächtiger, und fast alle Liberalkonservativen verließen die Partei. Aus linker Sicht ist der Aufstieg der rechten Flügel eine gute Nachricht.

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Praktische Solidarität ist alternativlos: Über die private Unterbringung von Flüchtlingen

Laut einer vor einer Woche erschienenen Emnid-Umfrage würde jeder vierte Deutsche bei sich zu Hause Flüchtlinge aufnehmen. Die Diskussion um private Unterbringungen von Asylbewerbern wurde bereits vergangenes Jahr, als sich der ehemalige Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder), Martin Patzelt, für einen »Paradigmenwechsel« in der Flüchtlingspolitik aussprach, entfacht. Der Staat sei angesichts der Flüchtlingsströme sowohl finanziell als auch infrastrukturell überfordert. Nun müssten die Bürger ihrem Staat unter die Arme greifen, so Patzelt weiter. Solange die Flüchtlinge nicht in ihre Heimat zurückkehren können und es keine anderweitigen Unterbringungsmöglichkeiten gibt, könnten diejenigen, die das wollen, kostenlos Wohnraum zur Verfügung stellen. Während der CDU-Bundestagsabgeordnete wie zu erwarten von Seiten der Einwanderungsgegner viel Kritik einstecken musste, erhielt er aus den eigenen Reihen erstaunlich viel Zustimmung.

Schaut man genauer hin, geht es Patzelt und Co. um weit mehr als um eine vorübergehende Hilfeleistung. Der Vorstoß ist der Versuch einer Neoliberalisierung der Flüchtlingspolitik. Ohne Umschweife sollen die Behörden aus ihrer Verantwortung entlassen werden, angemessen für die Unterbringung und Versorgung von Hilfesuchenden zu sorgen. So argumentierte Patzelt: »Bei akuter menschlicher Not dürfen Menschen nicht auf staatliche Aktion verweisen.« Dabei ist seit langem bekannt, dass sich Menschen zunehmend Krieg, Vertreibung und Not ausgesetzt sehen. Trotzdem wird so getan, als sei der Staat »plötzlich« mit einem unerwarteten Problem konfrontiert. Die missliche Lage, in der sich momentan viele Geflüchtete in Deutschland wiederfinden, kommt nicht von ungefähr. Sie ist vielmehr Folge einer Politik, die schlicht nicht willens ist, ausreichend Mittel und Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

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Rechtes Versuchslabor: Beim AfD-Bundesparteitag setzt sich Bernd Lucke mit einem Kompromissvorschlag durch

Eigentlich sollte es Ende Januar in Bremen beim Bundesparteitag der Alternative für Deutschland (AfD) zum großen Showdown kommen. In den Wochen zuvor hatten sich die Parteioberen einen unerbittlichen Schlagabtausch geliefert. Immer wieder war es Bernd Lucke, Hauptinitiator der AfD und Gesicht der Partei, der im Zentrum der Auseinandersetzungen stand. Nicht nur sein Führungsstil wurde kritisiert, sondern auch sein Vorstoß, die Führungsstruktur der Partei zu verändern. Nach Luckes Plänen sollte die AfD künftig von einem einzigen Vorsitzenden geführt werden.

Das missfiel nicht nur den beiden anderen Vorsitzenden, Frauke Petry und Konrad Adam. Bevor die Revolver gezückt werden konnten, fand der Bundesvorstand kurz vor dem Parteitag einen Kompromiss. Zunächst soll die Spitze auf zwei Vorsitzende verkleinert werden und Ende des Jahres gar nur noch aus einer Person bestehen. Es ist eine Übereinkunft, die Lucke deutlich mehr entgegen kommt als seinen Widersacher_innen. Er konnte sich schließlich in Bremen freuen, denn dem Antrag wurde ? wenngleich denkbar knapp ? zugestimmt.

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»Ein wohlstandschauvinistischer Reflex« – Interview im Schweizer vorwärts

Deutschland erlebt derzeit eine Mobilisierung des rechten Spektrums. Im gerade publizierten Buch « Der Aufstieg der AfD – Neokonservative Mobilmachung in Deutschland » befasst sich Sebastian Friedrich* eingehend mit der Partei und beurteilt für den vorwärts die aktuellsten Entwicklungen in Deutschland. „»Ein wohlstandschauvinistischer Reflex« – Interview im Schweizer vorwärts“ weiterlesen

Partei der entsicherten Mitte – Entsolidarisierung, Rassismus, Wohlstandschauvinismus und Ungleichheitsideologien: über die AfD-Kernwähler

Die Gründe für den außerordentlichen Erfolg der AfD bei den Mittelschichten sind in den sozialen, ökonomischen und politischen Veränderungen der vergangen Jahre zu suchen. Zahlreiche Studien belegen, dass die Mittelschicht schrumpft. Eine gemeinsam von der Bertelsmann-Stiftung, dem Deutschen Institut für Wirtschaft und der Universität Bremen im Jahr 2012 durchgeführte Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass seit 1997 der Anteil der Mittelschicht an der Gesamtgesellschaft von 65 auf 58 Prozent gesunken ist. Als Mittelschicht werden dabei diejenigen gefasst, die über 70 bis 150 Prozent des mittleren Einkommens verfügen.

Zugleich sind die unteren und untersten Einkommensschichten um fast vier Millionen Menschen angestiegen. An die Stelle der Aufstiegsmobilität trete zunehmend die Gefahr des sozialen Abstiegs, und die Sorgen um die wirtschaftliche Situation innerhalb der Mittelschicht hätten sich im Laufe der vergangenen zehn Jahre deutlich vergrößert.

Diese Entwicklung geht mit dem Ausbau prekärer Beschäftigungsverhältnisse – also befristete, niedrig entlohnte und von mangelnder rechtlicher Absicherung geprägte Lohnarbeit – einher, die nicht nur Teile der Arbeiterklasse betrifft. Dem französischen Soziologen Robert Castel zufolge existiert auch eine »›gehobene‹ Form von Prekarität« in Teilen der Mittelschicht, die gut bis sehr gut qualifiziert sind.

Das betrifft vor allem die Generation der heute unter 40-Jährigen. Die warme Stube der Baby-Boomer-Eltern dient noch als Orientierung, aber wird für immer weniger Menschen der nachfolgenden Generationen zur Lebensrealität. Das wärmende Gefühl sozialer Sicherheit weicht einer klammen Abstiegsangst, die – ob berechtigt oder nicht – immer weitere Teile der Mittelschicht erfasst. Der boomende und sozialstaatlich abgefederte Kapitalismus, der für die Generation der Eltern noch Aufstiegschancen versprach, hat sich gewandelt in einen Krisenkapitalismus, von dem man sich nichts mehr erhofft, sondern der einen stets mit Abstieg oder gar Ausschluss bedroht.

Zur Abstiegsangst gesellte sich im Zuge der Krise zunehmend eine Ablehnung der gegenwärtigen Parteiendemokratie. Hier sind es ebenfalls vor allem Menschen unter 40, die sich durch die bestehenden Parteien immer weniger repräsentiert sehen. Die Abkehr von Parteiorganisationen und parlamentarischer Repräsentation verweist auf ein Phänomen, das Colin Crouch vor einigen Jahren als »Postdemokratie« beschrieben hat. „Partei der entsicherten Mitte – Entsolidarisierung, Rassismus, Wohlstandschauvinismus und Ungleichheitsideologien: über die AfD-Kernwähler“ weiterlesen

Buch: Der Aufstieg der AfD (Bertz + Fischer 2015)

Bertz+Fischer_Friedrich_Aufstieg-der-AfD_Cover Sebastian Friedrich
Der Aufstieg der AfD
Neokonservative Mobilmachung in Deutschland
Politik aktuell 1
Bertz + Fischer Verlag, Berlin
112 Seiten, 13 Abbildungen
€ 7,90 [D] / € 8,20 [A]
ISBN 978-3-86505-731-0
Erschienen am 20. Januar 2015

Die Alternative für Deutschland (AfD) hat seit ihrer Gründung im Frühjahr 2013 erstaunliche Erfolge erzielt: Sie zieht in ein Parlament nach dem anderen ein und scheint auf dem besten Weg, die politische Landschaft nachhaltig zu verändern. Wie ist der schnelle Aufstieg der AfD zu erklären? Wer sind die Akteure und was sind ihre Ziele? Welche Entwicklung hat die Partei bisher genommen und wohin steuert sie? Wer wählt und unterstützt die AfD? „Buch: Der Aufstieg der AfD (Bertz + Fischer 2015)“ weiterlesen

Empörung reicht nicht: Die Überausbeutung von Migrant_innen ist Kennzeichen eines rassistisch segmentierten Arbeitsmarkts

Von Sebastian Friedrich und Jens Zimmermann

Seit Jahren wird von beharrlich-nationalkonservativer bis flexibel-neoliberaler Seite darüber diskutiert, wie viele Migrant_innen denn nach Deutschland kämen, um auf der faulen Haut zu liegen. Das Fatale an der Diskussion: Auch manche Linke tappen in die Diskursfalle und lassen sich auf die herrschenden Koordinaten der Debatte ein, etwa wenn sie darauf verweisen, dass Migrant_innen unter dem Strich durchaus etwas »nützen«. Anstatt ebenfalls Kosten-Nutzen-Rechnungen ins Feld zu führen, sollten derartige Bilanzen besser in den Mülleimer geworfen werden. Ein Anker für einen Perspektivwechsel ist die Thematisierung von Arbeitsbedingungen überausgebeuteter Arbeitsmigrant_innen und Wanderarbeiter_innen in Deutschland.

Ein Fall aus Berlin, der vor Wochen für Aufsehen sorgte, ist hierfür exemplarisch: Der Bau des Einkaufszentrums »Mall of Berlin« wurde auch durch über Subunternehmen angestellte Arbeitskräfte aus Rumänien realisiert, die fünf Euro Stundenlohn erhalten sollten. Als selbst dieser spärliche Lohn nicht komplett bezahlt wurde, trat mit Unterstützung der FAU Berlin eine Gruppe der Arbeiter in den Streik. Der Arbeitskampf sorgte bundesweit für Aufsehen. Viele ähnliche Fälle mieser Arbeits- und Lebensbedingungen von Arbeitsmigrant_innen und Wanderarbeiter_innen sind in den vergangenen Jahren öffentlich geworden, nicht nur in der Bauwirtschaft, sondern auch im Care-Sektor, in der Fleischindustrie, in der Logistikbranche sowie in der Werftindustrie. Die Fälle sind sich sehr ähnlich. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeitsmigrant_innen sind sehr prekär, da sie kaum Arbeitsschutz genießen und durch ausbleibende Lohnzahlungen werden die Reproduktionskosten meist unter das Existenzminimum gedrückt. Die durch kämpferische Streiks, solidarische Aktionen und engagierte Journalist_innen öffentlich gemachten Skandale sind allerdings keine bedauerlichen Einzelfälle. Vielmehr sind sie Ausdruck der spezifischen Ausbeutung von Migrant_innen im rassistisch segmentieren Arbeitsmarkt. „Empörung reicht nicht: Die Überausbeutung von Migrant_innen ist Kennzeichen eines rassistisch segmentierten Arbeitsmarkts“ weiterlesen

Die Welt der Selbstoptimierer. Patrick Schreiner hat ein erhellendes Buch über die sozialen Auswirkungen neoliberaler Ideologie geschrieben

Seit den 1970er Jahren hat sich die Form des Kapitalismus in den Industriestaaten deutlich gewandelt. Die Finanzmärkte wurden entfesselt, die Wirtschaft von einem nachfrageorientierten Modell auf ein angebotsorientiertes umgestellt, die gewerkschaftlichen Rechte der Arbeiter und Angestellten eingeschränkt und unter Maßgabe der Deregulierung Privatisierungen vorangetrieben. Die Folgen sind unübersehbar: Die Ungleichheit nimmt seit den 1970er Jahren rapide zu ? sowohl innerhalb der Staaten als auch zwischen ihnen. „Die Welt der Selbstoptimierer. Patrick Schreiner hat ein erhellendes Buch über die sozialen Auswirkungen neoliberaler Ideologie geschrieben“ weiterlesen

»Nur scheinbar progressiv« (Rezension)

Es gibt Bücher, die das Bestehende so schwer angreifen, dass es in sich zusammenstürzt und daraus etwas Neues entsteht. Einige halten das Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty für ein solches. Es ist jetzt in einer deutscher Fassung erschienen und hat die seit Anfang des Jahres laufende Diskussion um das über 800 Seiten dicke Werk in Deutschland neu angeheizt. Das Aufsehen ist beachtlich, dafür dass die Kernthese der Studie doch alles andere als außergewöhnlich ist. Piketty betrachtet das Verhältnis von Vermögen und Einkommen in den vergangenen Jahrhunderten und arbeitet heraus, dass seit den 1970er Jahren in den ehemaligen Industrienationen die Einkommen insgesamt langsamer wachsen als die Vermögen, die ihrerseits so ungleich verteilt sind wie zuletzt vor etwa 100 Jahren. Kurz gesagt, beweist Piketty, was vielfach ? wenn auch nicht in der Größenordnung ? belegt ist und selbst hartgesottene Neoliberale kaum noch leugnen können: Die Ungleichheit wächst.

Unter den Dutzenden Begleitbüchern, die parallel zur Veröffentlichung der deutschen Übersetzung erschienen sind, sticht eines besonders hervor. Der Wirtschaftsjournalist Stephan Kaufmann und der Politikwissenschaftler Ingo Stützle haben sich aus einer marxistischen Perspektive mit dem Bestseller auseinandergesetzt. Für diejenigen, die keine Zeit oder Lust haben, sich den 800 Seiten von Piketty sowie der noch umfangreicheren anschließenden Debatte en detail zu widmen, ist »Kapitalismus: Die ersten 200 Jahre« eine echte Entlastung. Auf weniger als 100 Seiten fassen die Autoren zunächst prägnant und verständlich die These des französischen Ökonomen zusammen und stellen die Mediendebatte sowie die wichtigsten der bisher vorgetragenen Kritiken vor. Dabei gehen sie auch der Frage nach, warum das Buch ein solch durchschlagender Erfolg werden konnte. Der sei nicht nur auf gutes Timing, Charisma des VWL-Newcomers und eine leicht verständliche einprägsame Formel zurückzuführen, sondern rühre vor allem aus dem Umstand, dass Piketty die bestehende Wirtschaftsform zwar angreife, aber an keiner Stelle antikapitalistisch argumentiert. Damit finde die »konstruktive Kapitalismuskritik« Anschluss an den herrschenden Krisendiskurs.

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Und weiter geht’s (Rezension)

Schon in den 1980er, spätestens 1990er Jahren ist auch in Deutschland etwas zu Grabe getragen worden, das zuvor der Linken als Orientierung diente. Die Rede ist von der Wahrheit. Unter den Sargträgern befanden sich auch einige Poststrukturalisten, etwa Jean-François Lyotard, der in der Trauerrede das Ende der großen Erzählungen und somit das Ende der universellen Erklärungen verkündete. Er ließ keinen Zweifel daran, dass auch ein marxistischer Gesellschaftsentwurf dahinschied. Kaum war die Wahrheit unter der Erde, rankten sich wilde Spekulationen darum, welchen Charakter sie zu Lebzeiten hatte. Bereits während des Leichenschmaus’ war zu hören, die Wahrheit sei ein Tyrann gewesen, die keinen Widerspruch und keine Diskussion zuließ.

In den folgenden Jahren erlosch in weiten Teilen der Linken die Erinnerung an die Wahrheit; übrig blieb eine verzerrte Vorstellung von ihr. Die noch verliebenden Marxisten wurden verdächtigt, einem rückwärtsgewandten, allumfassenden und unumstößlichen Wahrheitsanspruch zu vertreten. Was mal als durchaus berechtigte Kritik an Unantastbarkeit und Kritiklosigkeit begann, wandelte sich zu einem neuen, kritikresistenten Dogma: Es gibt keine Wahrheit.

Doch seit einiger Zeit versuchen sich Linke, etwa Alain Badiou und Slavoj Žižek, wieder an die Wahrheit zu erinnern. In der linken Theoriedebatte wird seither wieder gestritten: um das richtige Entsinnen. Was Wahrheit aus einer materialistischen Perspektive überhaupt meint(e), bleibt indes in den Auseinandersetzungen zumeist unterbelichtet.

Die Soziologin und Philosophin Carolin Amlinger hat sich auf die Suche nach dem vergessenen Wahrheitsbegriff gemacht. Das ist nicht nur verdienstvoll, weil sie damit mehr Sachlichkeit in die Debatte bringt, sondern auch, weil der Terminus in der marxistischen Theorie selten eindeutig gefasst wurde ? im Gegensatz zu Ideologiekonzepten, zu denen es Regalkilometer an marxistischen Abhandlungen gibt. Da Ideologien, wie Amlinger ausführt, in einem dialektischen Verhältnis zur Wahrheit stehen, ist es einleuchtend, dass die jeweiligen Ideologiebegriffe entscheidende Ansatzpunkte sind, um sich an Wahrheit zu erinnern.

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Wie Rechtspopulist/innen über Arbeitslose sprechen

Trotz einiger inhaltlicher Unterschiede innerhalb rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen in Europa gibt es eine ausschlaggebende Gemeinsamkeit: Die Forschung zu Rechtspopulismus betont die übergreifende ideologische Verbindung zum Neoliberalismus (Becher 2013: 20f.). Am augenfälligsten tritt diese Verschränkung bei der Abwertung von Arbeitslosen bzw. Sozialleistungsbezieher/innen in Erscheinung, die seit Aufkommen des Rechtspopulismus zu dessen grundlegen -den programmatischen Elementen zählt.

Die symbolische Abwertung basiert auf den immer gleichen Zuschreibungen, die bedient werden: Arbeitslose säßen den ganzen Tag vor dem Fernseher, konsumierten dabei literweise Bier und kiloweise Chips, trügen selten mehr als Unterhose und Unterhemd und vernachlässigten ihre Kinder. Das alles könnten sie, so das Klischee, weil der Sozialstaat sie dazu einlade, es sich in der »sozialen Hängematte« gemütlich zu machen. Dieses Stereotyp vereinheitlicht Arbeitslose und stellt sie unter Generalverdacht, im moralischen Sinne zu Unrecht Solidarität in Form von Geld- und Sachleistungen vom Sozialstaat zu erhalten. Um sich dem Verdacht zu entziehen, müssen sich Arbeitslose als besonders fleißig und erwerbsarbeitsorientiert präsentieren ? und sich ihrerseits von den vermeintlich »unwürdigen Arbeitslosen« abgrenzen. „Wie Rechtspopulist/innen über Arbeitslose sprechen“ weiterlesen

Fortschrittliche Körperbeherrschung (Rezension)

Geht es um Sport, verdrehen viele Linke die Augen. Für sie ist Sport per se Kommerz, nationalistisch und basiere auf Konkurrenzprinzipien, die von ihnen abgelehnt werden. Gegen eine solche Sichtweise wendet sich Gabriel Kuhn schon seit einiger Zeit. Der Autor ist ein Kenner der Materie. Bereits 2011 veröffentlichte er beim US-amerikanischen Verlag PM Press das Buch »Soccer vs. the State« ein flammendes Plädoyer für den Fußball. In seinem neuen Buch »Die Linke und der Sport« räumt er mit einer Reihe von Vorurteilen über den Sport auf. Behauptungen wie Sport sei Opium fürs Volk oder ein probates Propagandamittel für die politische Rechte wären zwar nicht ganz falsch, könnten jedoch nicht auf den Sport selbst zurückgeführt werden. Statt dessen müssten die Verhältnisse in den Blick genommen werden, in denen er ausgeübt wird.

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»Die Muslime« gibt es nicht: Wer »den Islam« kritisiert, stellt die falschen Fragen

Von Hannah Schultes und Sebastian Friedrich

Christian Baron schrieb am 29. Oktober an dieser Stelle über »das linke Islam-Tabu«. Sein Beitrag lässt einen mit vielen Fragezeichen zurück. Kann von einem linken Islam-Tabu die Rede sein, wenn doch seit etwa 15 Jahren innerhalb der Linken heftig darum gestritten wird, wie sich die Linke in Deutschland zum Islam verhalten soll? Hieß etwa die Beschneidungsdebatte nicht deshalb so, weil es sich um eine gesamtgesellschaftlich und auch innerhalb der Linken kontrovers geführte Auseinandersetzung handelte – oder war das alles Schein und in Wahrheit handelte es sich um einen Beschneidungskonsens? Ist es tatsächlich die Kritik an antimuslimischem Rassismus, der den strukturellen Rassismus stützt – oder ist es nicht viel mehr der strukturelle Rassismus, gerichtet gegen vermeintliche oder tatsächliche Muslime, der die antirassistische Kritik an ihm notwendig gemacht hat? Warum soll in erster Linie der Islam in Deutschland Objekt einer linken Religionskritik sein – angesichts der kulturellen Vorherrschaft des Christentums, jener Religion, die nebenbei ganz offiziell staatlich subventioniert wird?

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Der angepasste Nachwuchs

Pünktlich zu Semesterbeginn ist eine Diskussion um die prekären Arbeitsbedingungen junger Nachwuchswissenschaftler entfacht worden. Einschließlich Vorbereitung und Nachbereitung arbeiten Lehrbeauftragte häufig für deutlich weniger als fünf Euro die Stunde. Eine Aussicht auf Besserung innerhalb des Wissenschaftsbetriebs haben wenige, wie der Wissenschaftsrat im Juli feststellte. Während die Zahl der Studierenden seit Jahren stark ansteige, wachse die Zahl neuer Professorenstellen nur sehr langsam, so die Kritik.

Es ist zudem nicht lohnend, es sich im akademischen Mittelbau gemütlich zu machen. Mehr als 80 Prozent der wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeiter an deutschen Universitäten haben laut Wissenschaftsrat eine befristete Stelle, davon ist die Hälfte auf weniger als ein Jahr befristet. Noch prekärer als im Zentrum des akademischen Mittelbaus ist die Situation vor allem an Hochschulen für freie Lehrbeauftragte, die immer von Semester zu Semester für einzelne Lehraufträge berufen werden und sich als Honorarkräfte selbst versichern müssen, keinen Kündigungsschutz genießen und weder Anspruch auf Urlaub noch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall haben.

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