Seit Mitte der 1970er Jahre ist Arbeitslosigkeit ein zentrales Thema in BRD-Wahlkämpfen. Häufig stehen die Betroffenen selbst im Fokus, etwa wenn ihnen von Konservativen und Sozialdemokraten vorgeworfen wird, sich nicht genügend um einen Job zu bemühen. Das offizielle Ziel der Politik ist die Senkung der Arbeitslosigkeit. Allerdings ist letztere keinesfalls für alle ein Problem. Unternehmen profitieren von einem gewissen Maß an Erwerbslosigkeit, denn der Druck auf Lohnabhängige steigt parallel zur Quote der Jobsuchenden. Freigesetzte Lohnarbeiter treten auf dem Arbeitsmarkt in Konkurrenz zueinander. Dadurch sinkt der durchschnittliche Preis ihrer Arbeitskraft ? und der Gewinn des Unternehmens steigt. Doch Arbeitslosigkeit kann für die Kapitalseite auch Probleme mit sich bringen. So drohen soziale Spannungen, wenn durch sie die Unzufriedenheit anwächst. Im bürgerlichen Staat geht Arbeitslosigkeit mittlerweile auch die Unternehmen an ? etwa in Form »ihres« Beitragsanteils für diesen Zweig der Sozialversicherung.
Das ist keineswegs seit jeher der Fall. Verglichen mit anderen kapitalistisch entwickelten Staaten eher spät verabschiedete der Deutsche Reichstag 1927 das »Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung«, kurz: AVAVG, das am 16. Juli in Kraft trat. Anspruchsberechtigt für ein halbes Jahr waren diejenigen, die innerhalb eines Jahres mindestens sechs Monate in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hatten. Bevor mit der Pflichtversicherung auch die Kapitalseite Beiträge entrichten musste, war Arbeitslosigkeit ausschließlich ein Problem der Betroffenen selbst. Wenn diese über die Armenfürsorge hinaus Unterstützung erhalten wollten, war das nur möglich über eine der gewerkschaftlich organisierten Arbeitslosenversicherungen.
Einführung umkämpft
Kein Wunder also, dass sich die Unternehmer gegen die Einführung zur Wehr setzten. Doch gegen die Schwerindustrie und den Bergbau im Ruhrgebiet, die besonders heftig gegen die allgemeine Arbeitslosenversicherung agitierten, formierte sich ein Bündnis, bestehend aus sozialdemokratischen Teilen der Arbeiterbewegung sowie exportorientierten und liberaleren Kapitalfraktionen.
Von Beginn an stritten in der Weimarer Republik Sozialdemokratie und Unternehmerseite über die richtige Ausgestaltung. Am 7. Juli 1927 ging das AVAVG durch den Reichstag ? gegen die Stimmen der Nazis, einiger Abgeordneter der Deutschnationalen Volkspartei und die der kompletten KPD-Fraktion. Die Kommunisten lehnten das Gesetz als »Stück der reaktionären Bürgerblockpolitik« ab. Es markierte aus ihrer Sicht eine Niederlage der Arbeiterklasse. Die KPD erkannte darin eine Ausdehnung der Kontrolle des Sozialstaates über das Leben der Lohnabhängigen, lehnte grundsätzlich eine Beteiligung der Arbeiter an den Leistungen der Versicherung ab und kritisierte, dass nicht alle Teile der Arbeiterklasse, z.?B. Langzeiterwerbslose und Saisonarbeiter, einbezogen waren. Zudem sprachen sich die Kommunisten gegen die zeitliche Befristung der Unterstützungsleistungen aus.
Die Versicherung war ausgelegt auf höchstens 800.000 Arbeitslose. Zum Zeitpunkt der Einführung befand sich die Weimarer Republik in einer vergleichsweise guten Arbeitsmarktlage. Im Oktober 1927 gab es lediglich 340.000 Hauptunterstützungsempfänger. Doch bereits im Winter stieg die Zahl der Arbeitslosen über das saisonübliche Maß an und setzte bereits nach kurzer Zeit die Versicherung unter Druck. Im Oktober 1928 hatte sich die Zahl derjenigen, die Unterstützung durch die Versicherung erhielten, bereits verdoppelt. Das Versicherungsvermögen reichte bald nicht mehr aus, weshalb eine Unterstützung durch das Finanzministerium nötig wurde. Auch eine Beitragserhöhung von drei auf 3,5 Prozent Ende 1929 brachte keine Entspannung.
Als die Arbeitslosenzahl weiter stieg, nutzten die Kapitalfraktionen, die gegen das Gesetz waren, ihre Chance zum Konter. Sie versuchten, die Leistungen aus der Versicherung einzudämmen und stemmten sich zugleich gegen Beitragserhöhungen. Mit der Novelle zum AVAVG vom Oktober 1929 und spätestens mit der Notverordnungspolitik ab 1930 entwickelte sich die KPD immer mehr zur Verteidigerin der Arbeitslosenversicherung. Am 3. Oktober 1929 erklärte deren Abgeordneter Siegfried Rädel im Reichstag: »Mit Recht hat die kommunistische Fraktion das Arbeitslosenversicherungsgesetz bei seiner Schaffung als eine Etappe der sozialen Reaktion bekämpft und abgelehnt. Wie jedoch die kommunistische Partei überall gegen jede Verschlechterung der Lebensverhältnisse des Proletariats kämpft, so hat die kommunistische Fraktion auch gegen jede weitere Verschlechterung der Arbeitslosenversicherung den schärfsten Kampf geführt.«
Koalition gesprengt
Mit der Weltwirtschaftskrise und dem explosionsartigen Anstieg der Arbeitslosenzahlen war die Versicherung in ihrer ursprünglichen Form kaum noch zu retten. Die »große Koalition« um Reichskanzler Hermann Müller (SPD) zerbrach im März 1930 am Streit über ihre Finanzierung. Aufgrund der hohen Arbeitslosenzahl musste die Versicherung staatlich bezuschusst werden. Um gegenzusteuern, setzte die SPD auf Beitragserhöhungen, wogegen sich die mitregierende Deutsche Volkspartei stemmte. Es kam zu keiner Einigung. Auch der »Klassenkompromiss« zwischen SPD und den liberaleren Kapitalfraktionen zerbrach. Auf Müller folgte der Zentrumspolitiker Heinrich Brüning. Er regierte mit Notverordnungen in einem Präsidialkabinett. Die Auflösung der Weimarer Republik nahm ihren Lauf.
Mit der Machtübertragung an die Nazis wurde das AVAVG endgültig entsorgt. Die sogenannte Selbstverwaltung mit Vertretern von Unternehmern und solchen von Versicherten bei der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, dem Vorläufer der heutigen Bundesagentur für Arbeit, war mit dem »Führerprinzip« nicht vereinbar. Die Anstalt wurde umgewandelt und dem Reichsarbeitsministerium unterstellt.
Die Bundesrepublik reaktivierte 1952 das AVAVG und löste es 1969 durch das Arbeitsförderungsgesetz ab. 1998 schließlich ordnete die Bundesregierung es in das Sozialgesetzbuch ein. Das AVAVG bildet damit die Grundlage der heutigen Arbeitslosenversicherung. Damals wie heute sind nur diejenigen anspruchsberechtigt, die arbeitsfähig, arbeitswillig und unfreiwillig ohne Job sind. Die Einteilung in »echte« und »unechte« Arbeitslose und regelmäßige Kampagnen gegen ein angebliches Heer fauler Arbeitsloser haben hier ihre gesetzesförmige Basis.
Erklärung der kommunistischen Reichstagsfraktion, verlesen durch Siegfried Rädel, 336. Sitzung, 7. Juli 1927:
Die kommunistische Fraktion hat bei den Beratungen über das Arbeitslosenversicherungsgesetz keinen Zweifel darüber gelassen, daß sie grundsätzlich gegen dieses Gesetz ist. Nach wie vor wendet sich die kommunistische Fraktion gegen das Versicherungsprinzip und vertritt den Standpunkt, daß dem Staate und dem Unternehmertum die Fürsorgepflicht für die Opfer der kapitalistischen Wirtschaft obliegt. (…) Die kommunistische Fraktion hat deshalb das Gesetz bekämpft. Sie hat versucht, dem Gesetz eine Fassung zu geben, die den Forderungen der Arbeiterschaft entspricht und den Erwerbslosen die notwendigsten Existenzmittel garantiert. (…) Der Kampf der Unternehmer richtet sich gegen alle Forderungen, die eine soziale Verpflichtung des kapitalistischen Staates gegenüber der werktätigen Bevölkerung bedeuten. Das zeigt mit aller Klarheit das Arbeitslosenversicherungsgesetz. Neben dem reaktionären Aufbau und der Verwaltung sind es insbesondere die Bestimmungen über die Versicherungspflicht und die Leistungen an die Versicherten, die den Zweck haben, den Arbeiter und Angestellten an seinen Arbeitsplatz zu fesseln, um auf diese Weise der kapitalistischen Wirtschaft eine Stabilität zu geben, die zur Durchführung der raffiniertesten Ausbeutungsmethode, der kapitalistischen Rationalisierung, notwendig ist. Die kommunistische Fraktion lehnt dieses Gesetz, das ein Stück der reaktionären Bürgerblockpolitik ist, ab. Sie wird gemeinsam mit der Arbeiterschaft den Kampf gegen den Raub sozialer Rechte fortsetzen.
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Erschienen in Junge Welt, 8. Juli 2017.