Das falsche Wir (Rezension)

Björn Höcke, ein Vertreter des ganzganzrechten Flügels der AfD, stellt vermehrt die „neue deutsche soziale Frage“. Diese sei „nicht primär die Verteilung des Volksvermögens von oben nach unten“. Er sagte auf einer AfD-Demo in Schweinfurt im Frühjahr 2016: „Die neue deutsche soziale Frage des 21. Jahrhunderts ist die Frage nach der Verteilung des Volksvermögens von innen nach außen“. Eine solche nationalistische Antwort auf die soziale Frage ist in Deutschland mit der AfD, in Frankreich mit dem Front National, in Österreich mit der FPÖ und in den USA mit Donald Trump auf dem Vormarsch. Denjenigen, die sich zumindest bedrängt fühlen, bietet der Nationalismus ein Angebot. Durch Abschottung, Ausschluss und Abschiebungen soll der Reichtum in den Zentrumsstaaten beisammen gehalten werden.

Die gegensätzliche Perspektive nimmt Stephan Lessenich in „Neben uns die Sintflut“ ein. Der Buchtitel ist zugleich dessen zentrale Aussage. Er führt aus:

„Was sich aus unserer Sicht, an der ‚Peripherie’ der Welt abspielt, an den Außenposten des globalen Kapitalismus, verweist zurück auf das Zentrum des Geschehens oder, genauer: auf die gesellschaftlichen Verhältnisse an jenen Regionen, die sich für den Nabel der Welt halten und ihre Machtposition im wirtschaftlichen und politischen Weltsystem nutzen, um die Spielregeln vorzugeben, an die andere sich halten müssen und deren Folgen andernorts spürbar werden“ (S. 13).

Lessenichs Essay besticht durch seine klare Sprache. Er betätigt sich als eingreifender Soziologe ? und nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er über die globale Ungleichheit spricht. Seine Beispiele sind zwar weitgehend bekannt, aber in ihrer Dichte schockierend und nicht leicht zu ertragen. In Südamerika existieren riesige Felder, auf denen unter massivem Chemikalieneinsatz Sojabohnen hergestellt werden, die dann als Mastfutter in den Mägen von in Europa, Nordamerika und China eingesperrten Tieren und dann wiederum in den Mägen der dortigen Bevölkerung landen. Die Liste ließe sich endlos fortführen: Egal ob Palmöl aus Malaysia, Baumwolle aus Indien, Sand aus Indonesien oder Garnelen aus Thailand ? immer profitiert der Globale Norden von den umweltzerstörenden und ausbeuterischen Produktionen im Globalen Süden. Das gilt nicht nur für die ausgebeuteten Produzent_innen, sondern auch für uns Konsument_innen, denn mit den Folgen der miesen Arbeitsbedingungen und der Ausbeutung der Naturressourcen müssen wir uns etwa in Deutschland kaum herumschlagen.

Verdrängte Wahrheiten

Lessenich möchte mit seinem Buch die unfassbare globale Ungleichheit ins Bewusstseins der Zentrumsstaatenbevölkerung rücken. Nur allzu gerne verlagern wir das Wissen darüber, wie unsere Klamotten oder unser Fleisch hergestellt werden, in die Peripherie unseres Gehirns. Das ist kein individuelles Problem, denn wir ? so Lessenichs Diagnose ? leben in einer „Externalisierungsgesellschaft“, will heißen: „Die reichen, hochindustrialisierten Gesellschaften dieser Welt lagern die negativen Effekte ihres Handelns auf Länder und Menschen in ärmere, weniger ‚entwickelte’ Weltregionen aus“ (S. 24).

Die Kritik an einer Perspektive, die nur im Hier und Jetzt verharrt, ist richtig. Selbst in linken Kreisen in Deutschland scheint die globale Perspektive in der Prioritätenliste weit nach hinten gerutscht zu sein. Begriffe wie „ungleicher Tausch“ oder „Schmarotzerstaaten“ gehörten einst zum Standardrepertoire, sind jedoch mitsamt des linken Antiimperialismus in den vergangenen Jahren ins Abseits geraten.

Mittlerweile erschienen viele Rezensionen zu dem Buch. Nicht alle waren positiv. Immer wieder war die Kritik zu lesen, das Buch lasse Handlungsperspektiven vermissen. Tatsächlich belässt es Lessenich bei vagen Andeutungen auf den letzten zweieinhalb Seiten. Er macht keinen Hehl daraus, dass es primär darum geht, auf das Problem aufmerksam zu machen. Er wolle mit „der Schweigespirale des Wohlstandskapitalismus“ brechen (S. 192) und „Unsichtbares sichtbar machen, Unausgesprochenes aussprechen, Ausgeblendetes zur Geltung bringen“ (S. 193). Nun muss ein Buch nicht Lösungen liefern. Allerdings: Lessenich verzichtet nicht freiwillig darauf, Handlungsvorschläge zu machen. Vielmehr bleiben ihm solche aufgrund seiner eindimensionalen Analyse verborgen.

„Wir“ gegen „die“ ? nur eben andersrum

Bei Lessenich gibt es nur „wir“ und „sie“. Das kommt bereits im Begriff der Externalisierungsgesellschaft zum Vorschein. Alle, die zur Gesellschaft zu zählen sind, externalisieren. Dabei gibt es auch innerhalb des „Wirs“ erhebliche Abstufungen. Es liegt auf der Hand: Je höher Einkommen und Vermögen, desto mehr Konsum. Besonders klimaschädlich: Fernreisen mit dem Flugzeug. Die vom Bundesumweltministerium herausgegebene Studie „Umweltbewusstsein in Deutschland 2016“ verweist darauf, dass einkommensschwache Menschen den geringsten Umweltverbrauch aufweisen.

Lessenich adressiert mit seinem Buch wohl am ehesten die gutsituierten Teile der Gesellschaft, die tatsächlich ? egal ob grün-urban-akademisch-bewusst oder mir-geht-das-eigentlich-am-Arsch-vorbei-ignorant ? ganz vorne dabei sind, wenn es um das Externalisieren geht. Dass er bei seinem Fokus die unteren Klassen völlig aus dem Blick verliert, zeigt sich etwa, wenn er Sätze schreibt wie: „Es ist recht leicht und steht letztlich jedem Einzelnen offen, anders zu trinken und anders zu essen, bewusster zu kaufen und reflektierter zu konsumieren“ (S. 110). Gehören die Millionen Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, etwa nicht zur Gesellschaft? Oder denkt Lessenich, dass es mit einem Regelsatz von 409 Euro im Monat tatsächlich „recht leicht“ ist, sich für Fair-Trade-Produkte zu entscheiden?

Lessenich konzentriert sich in seinem Buch auf den Konflikt „innen VS. außen“. Er ist damit der Gegenpol zu Björn Höcke, allerdings befinden sich beide im selben Spannungsfeld. „Oben VS. unten“ fällt auch beim Begriff „Externalisierungsgesellschaft“ unter den Tisch. Dabei wäre diese Ebene so wichtig, um nicht nur einer ethisch bewussten „Mitte“ etwas anzubieten, sondern auch denen, die im Zuge des neoliberalen Umbaus des Sozialstaats, des Arbeitsmarktes und des Wohnungsmarktes im Zuge der vergangenen 30 Jahre immer weniger zu lachen hatten. Sie sind die Verlierer_innen in dieser Gesellschaft. Doch Lessenich macht aus den relativen Verlierer_innen innerhalb des Zentrums absolute Gewinner_innen im Weltsystem. Damit kann er nicht der gelebten Realität der unteren Klassen hier gerecht werden. Das weiß er auch. Ganz am Schluss löst er das falsche „Wir“ der Externalisierungsgesellschaft auf und stellt klar „Wir leben alle in einer Wohlstandsgesellschaft ? und doch gibt es kein wohlstandsgesellschaftliches ‚Wir’“ (S. 189). Doch es ist an dieser Stelle zu spät aufgelöst, denn seine Analyse geht genau von diesem Wir aus. Aus den Augen aus dem Sinn.

Gerade weil er nur die globale Ungleichheit fokussiert, macht Lessenich ein „fundamentales politik-strategisches Problem aus“ (S. 189). Es sind zwei Fragen, die er am Schluss stellt und unbeantwortet lässt:

„Wie für mehr Gleichheit im globalen Maßstab streiten, ohne die berechtigten Ansprüche auf Gleichheit […] im nationalen Kontext zu missachten? Wie auch die schlechter Positionierten in den reichen Gesellschaften als Profiteure der Externalisierungsgesellschaft ansprechen ? und sie gleichwohl in ihren Sorgen vor weiterer sozialer Benachteiligung gegenüber den Bessergestellten um sie herum ernst nehmen?“ (S. 189f.)

Es ist ein ähnlich „politik-strategisches Problem“, das auch klassische Antiimperialist_innen haben, deren Fokus auf die globale Ungleichheit die hiesigen sozialen Kämpfe vernachlässigt. Da die hiesige Arbeiterklasse zu einer globalen Arbeiteraristokratie zähle, sei von ihr nichts zu erwarten. Diese Analyse war vor fünfzig Jahren bereits problematisch, heute allerdings ? nach dem erfolgreich geführten neoliberalen Klassenkampf von oben, der den Klassenkompromiss weitgehend aufkündigte ? ist sie schlichtweg falsch.

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Erschienen in kritisch-lesen.de Nr. 44, 11. Juli 2017.