Pünktlich zu Semesterbeginn ist eine Diskussion um die prekären Arbeitsbedingungen junger Nachwuchswissenschaftler entfacht worden. Einschließlich Vorbereitung und Nachbereitung arbeiten Lehrbeauftragte häufig für deutlich weniger als fünf Euro die Stunde. Eine Aussicht auf Besserung innerhalb des Wissenschaftsbetriebs haben wenige, wie der Wissenschaftsrat im Juli feststellte. Während die Zahl der Studierenden seit Jahren stark ansteige, wachse die Zahl neuer Professorenstellen nur sehr langsam, so die Kritik.
Es ist zudem nicht lohnend, es sich im akademischen Mittelbau gemütlich zu machen. Mehr als 80 Prozent der wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeiter an deutschen Universitäten haben laut Wissenschaftsrat eine befristete Stelle, davon ist die Hälfte auf weniger als ein Jahr befristet. Noch prekärer als im Zentrum des akademischen Mittelbaus ist die Situation vor allem an Hochschulen für freie Lehrbeauftragte, die immer von Semester zu Semester für einzelne Lehraufträge berufen werden und sich als Honorarkräfte selbst versichern müssen, keinen Kündigungsschutz genießen und weder Anspruch auf Urlaub noch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall haben.
Da in den vergangenen Jahren die Zahl der Lehrbeauftragten sowie der Anteil der befristeten Verträge für wissenschaftliche Mitarbeiter sukzessive gestiegen ist, ist die Situation von besonderer Brisanz. In Zeiten, in denen vor allem in der Lehre gekürzt wird, ist es ein akademisches Prekariat, das den Lehrbetrieb aufrecht erhält.
Der emeritierte Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der FU Berlin, Peter Grottian, hat kürzlich in der »Süddeutschen Zeitung« auf die Situation der Nachwuchswissenschaftler hingewiesen und dabei auch deren passive Haltung kritisiert. Statt sich zu organisieren oder auf die Straße zu gehen, schielten sie lieber auf einen Lehrstuhl und ihren Lebenslauf. Momentan ist in der Tat ein flächendeckender Protest gegen die Arbeitsbedingungen von Seiten der Betroffenen nicht in Sicht. Es gibt keine Streiks, keine durchschlagende Kampagne und kaum Vernetzung. Das liegt an den verschärften Bedingungen, aber auch an den Lehrenden selbst, die sich den Bedingungen kaum widersetzen. An den Universitäten und Hochschulen dominiert der Typus des angepassten Nachwuchswissenschaftlers.
Da in Deutschland unbefristete Stellen im Mittelbau weitgehend Fehlanzeige sind, bleibt für diejenigen, die auf eine Wissenschaftskarriere an Universitäten oder Hochschulen setzen, nur die Hoffnung auf eine der raren Professuren. Mehr denn je gilt das Alles-oder-nichts-Prinzip. Es gibt keine Karriereleiter, auf der man Schritt für Schritt aufsteigen kann und bei der man es sich auch auf einer mittleren Sprosse gemütlich machen kann, wenn der Weg nach ganz oben zu aufwändig scheint. Entweder man erhält einen rettenden Ruf auf einen Lehrstuhl oder man lebt weiter materiell auf Studierenden-Niveau. Ob es für die ersehnte Professur reicht oder nicht, entscheiden letztlich Glück und Anpassungsfähigkeit.
Um die Chancen auf die begehrten Lehrstühle zu erhöhen, muss der angepasste Nachwuchswissenschaftler einen Drahtseilakt vollführen. Einerseits muss er sich im Gespräch halten, regelmäßig in peer-reviewed-Zeitschriften veröffentlichen, an den bedeutenden Konferenzen teilnehmen, den Kontakt zu den wichtigen Leuten halten und Begriffe am Fließband produzieren und hoffen, es möge wenigstens einer Eingang in den Kanon finden. Andererseits darf er nicht negativ auffallen und es sich möglichst mit niemandem verscherzen, denn wer weiß schon, wer eines Tages im Nominierungsausschuss sitzt. Entsprechend überlegt er sich zweimal, ob er sich öffentlich politisch äußert. Der Tanz auf dem Seil lässt dem angepassten Wissenschaftler kaum Zeit für langwierige Treffen zum Aufbau einer Selbstorganisation, zumal diejenigen, mit denen er sich solidarisieren müsste, potenzielle Konkurrenten sind. Hinzu kommt, dass die Professoren, auf deren Solidarisierung er angewiesen wäre, von seiner misslichen Lage profitieren. Der angepasste Nachwuchswissenschaftler weiß, dass er die Lehrstuhlinhaber nicht zu sehr in die Pflicht nehmen darf, denn letztlich ist er auf deren Unterstützung angewiesen, wenn es um Unterstützung für Folgeanträge und weitere Lehraufträge geht.
Angesichts dieser Arbeitsbedingungen ist es für viele Wissenschaftler neben dem sozialen Prestige, das eine akademische Laufbahn noch immer bereit hält, vor allem Idealismus, der sie in der Wissenschaft hält. Doch das System der strategischen Anpassung hat direkte Auswirkungen auf die Forschung. Wer noch während der aktuellen befristeten Beschäftigung Anträge für die nächste befristete Stelle schreiben muss, hat sich in einem zunehmend auf Drittmittel fokussierten Uni-Betrieb an den angesagten Themen zu orientieren.
Der angepasste Nachwuchswissenschaftler ist Objekt und Subjekt der zugleich. Objekt, weil er entsprechende Verhältnisse vorfindet und gezwungen ist, sich zu arrangieren ? und Subjekt, weil er sie durch sein Tun aufrecht hält. So werden sich die Gedanken der akademischen Reservearmee zu Beginn des Semesters vor allem wieder um die Frage drehen, wie es jeweils mit ihnen unter den schwierigen Bedingungen weitergeht.
Doch es bleibt Hoffnung: Mehr und mehr prekär Beschäftigte im Mittelbau erheben wieder gemeinsam ihre Stimme. So kursiert ein offener Brief von Soziologen, die sich für »gute Arbeit in der Wissenschaft« einsetzen und die Professoren auffordern, sich konsequent für die Verbesserung der Beschäftigungsverhältnisse einzusetzen. Außerdem rufen die AG Lehrbeauftragte der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Berlin und die Bundeskonferenz der Sprachlehrbeauftragten zu einem bundesweiten Aktionstag am 6. November auf, um auf die prekäre Situation der Lehrbeauftragten aufmerksam zu machen. Vielleicht kommt er wieder: der Typus des ungehorsamen Nachwuchswissenschaftlers.
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Erschienen in Neues Deutschland, 18./19.10.2014.