Der Mut, dem Gegner in die Augen zu schauen

Interview: kritisch-lesen, 15.01.2019

Bini Adamczak über die Erinnerung an Revolutionen, rechte Vereinnahmungen, zaudernde Linke und den Staat.

200 Jahre Marx, 100 Jahre Oktoberrevolution, 50 Jahre 1968, zurzeit feiern wir viele Jubiläen wichtiger linker Geschichtsdaten. Aber allein damit ist die gegenwärtige Konjunktur des Zurückblickens wohl nicht zu erklären. Womit noch?

Das hat zum einen etwas mit dem kulturindustriellen Spektakel zu tun. Die Revolution scheint ein Abenteuer, bei dem unglaublich viel passiert, da bricht eine alte Ordnung zusammen, da laufen Leute mit Gewehren rum, und die Mächtigen beziehen Dresche. Man sitzt gemütlich zu Hause, es regnet draußen, und man liest den Revolutionskrimi. Oder man sitzt in einem Café, trinkt ein Glas Rotwein und verschafft sich, schön geschützt und kuschelig, einen kleinen geschichtlichen Thrill – wie wild es damals doch war.

Bini Adamczak ist Aktivistin und Autorin. Sie lebt in Berlin, beschäftigt sich mit Revolutionen, politischer Theorie und Geschlechterverhältnissen. Ihr in zahlreiche Sprachen übersetztes Buch »Kommunismus. Kleine Geschichte wie alles anders wird« erklärt Kindern sowie Erwachsenen den Kapitalismus und die Sehnsucht, ihn zu überwinden. Zuletzt erschienen von Adamczak im Suhrkamp-Verlag »Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende« und »Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman. Vom möglichen Gelingen der Russischen Revolution« in der edition assemblage.Doch das ist nicht die einzige Antwort. Vielleicht bietet die Gegenwart nicht genug Anlässe, um solche radikalen Perspektiven einzubringen, wie das etwa 1968, 1917 der Fall war. Der Blick zurück erlaubt eine radikalere, eine tiefer greifende Infragestellung der grundlegenden Bedingungen unserer Lebensverhältnisse. Positiv formuliert besteht die Möglichkeit, die aktuelle Krise des Kapitalismus besser zu verstehen – in der Auseinandersetzung mit dem vergangenen Erbe, den vergangenen Kämpfen, die verschüttgegangen und vergessen, aber unabgeschlossen sind. Wie Walter Benjamin sagen würde: Die Auseinandersetzung mit der Geschichte gibt uns die Möglichkeit, eine Konstellation zwischen zwei Zeiten herzustellen. Wir können uns fragen, was sagt uns 1968 heute, was sagt uns 1917 heute oder was sagt uns Karl Marx heute?

Was sagt uns denn die Revolution heute?

Revolutionen geben uns die Möglichkeit, einen anderen Maßstab zu finden, an dem wir die Gegenwart messen können. Vieles, womit wir uns heute befassen, sind zunächst Abwehrkämpfe oder Verschiebungen im vorgegebenen Rahmen, etwa wenn wir fordern, Hartz IV abzuschaffen, die Löhne zu erhöhen oder Wohneigentum zu rekommunalisieren. Etwas anderes ist es, Eigentum prinzipiell infrage zu stellen.

Es gibt viele radikale Fragen, die in der Gegenwart kaum gestellt werden, weil die Kräfteverhältnisse sie ins Abseits drücken. Diese revolutionäre Perspektive kann über den Umweg der Geschichte wieder in die Gegenwart geholt werden. Sie erlaubt uns, diese Welt ganz anders wahrzunehmen. Gleichzeitig wird es uns so vielleicht möglich, unsere Wünsche und Begierden, die in der gegenwärtigen Situation als irreal erscheinen, überhaupt zu artikulieren.

Was bedeutet für dich eigentlich Revolution?

Meine Definition von Revolution, darin unterscheidet sie sich nicht von anderen Revolutionstheorien, ist recht abstrakt. Revolution heißt nicht, Politik unter vorgefundenen Bedingungen zu machen, sondern die Bedingungen der Politik selbst zu politisieren. Nicht zu fragen, wie lassen sich Beruf und Familie vereinbaren, sondern wie lassen sich Familie und Beruf abschaffen? Wie lassen sich die hier verrichteten Tätigkeiten anders organisieren? Welche Beziehungen lassen sich anstelle der familiären oder beruflichen Beziehungen knüpfen? Das sind revolutionäre Fragen, die auch 1917 und 1968 gestellt wurden. In meinem Buch »Beziehungsweise Revolution«, das zum 50. beziehungsweise 100. Jubiläum dieser Revolutionswellen erschienen ist, habe ich versucht, sie wieder in Erinnerung zu rufen.

Revolution galt spätestens nach dem Untergang der Sowjetunion als erledigt, es war sogar von einem Ende der Geschichte die Rede. Nun merken immer mehr Menschen: So richtig zu Ende scheint die Geschichte noch nicht zu sein. Woran liegt es, dass Begriffe wie Revolution den Menschen wieder leichter über die Lippen gehen?

»Beziehungsweise Revolution« ist Ende 2017 erschienen, ich habe aber lange davor angefangen, daran zu schreiben. Das war zu einem Zeitpunkt, wo Revolution historisch komplett abwegig geworden war. Sie war nur noch ein Thema für Geschichtswissenschaft oder Geschichtsphilosophie, hatte aber nichts mit der wirklichen Politik zu tun. Dann kamen das Jahr 2011 und der Arabische Frühling. Mit diesem taucht plötzlich die Revolution wieder auf, zunächst auf ganz klassische Weise, mit dem Sturz einer Regierung. Wir erleben kurz darauf Niederlagen dieser Bewegungen, teilweise passen sie sich relativ schnell an, teilweise werden sie integriert, teilweise unterliegen sie einem neoliberalen Machtblock und teilweise enden sie im Bürgerkrieg.

Du hast viele Lesungen aus deinem Buch gehalten. Was waren deine Erfahrungen bei den anschließenden Diskussionen?

Hier, ich lebe ja leider hauptsächlich in Deutschland, herrscht die Wahrnehmung vor, dass Umsturz oder radikale Veränderung der Gesellschaft oder eben Revolution eher von rechts besetzt sind. Ich erlebe, dass Linke oder auch Liberale eher damit beschäftigt sind, Wälle aufzurichten, um die rechten Angriffe auf diese Ordnung abzuwehren. Ein großer Teil der Linken in Deutschland ist von einer spezifisch deutschen Melancholie gezeichnet, die meint, dass sich nichts ausrichten lässt gegen die Obrigkeit oder dass die Masse ohnehin nach rechts tendiert. Das ist oft eine Atmosphäre in den Räumen, in denen ich diskutiere. Wir müssen fragen, ob dieses Gefühl den wirklichen Kräfteverhältnissen gegenüber angemessen ist – und wie sinnvoll diese spontane Ideologie der Verteidigung der bestehenden Zustände gegen den Angriff von rechts eigentlich ist.

Wenn man also davon ausgeht, dass alles immer schlimmer wird, erhöht sich die Gefahr, dass auch alles immer schlimmer wird?

Linken in Deutschland fällt es oft schwer, Erfolge zu erkennen und Siege zu feiern, das eigene Scheitern zu reflektieren und Niederlagen zu betrauern.

Kannst du ein Beispiel nennen?

In der deutschen Linken gibt es sehr wenig Erinnerung für eine der größten Streikbewegungen in der Geschichte Deutschlands, die Streikbewegungen Anfang der 1990er Jahre, als es riesige Streiks gegen die Schließung von großen Werken in Ostdeutschland gab. Der Kampf gegen das bundesdeutsche Kapital ging verloren und genau diese Erfahrung der Niederlage ist nicht genügend aufgearbeitet. Eine nicht betrauerte Niederlage beim Versuch, sich gegen eine Zumutung der Mächtigen zu wehren, könnte ein Grund sein für spätere Entscheidungen, auf Schwächere loszugehen und sich mit den Mächtigen zu identifizieren.

Das Nichtbetrauern solcher Niederlagen führt dazu, dass sich Niederlagen reproduzieren. So macht sich das Gefühl breit, dass wir nichts ändern können, obwohl die Wirklichkeit vielleicht mehr Ansatzpunkte für Veränderungen bietet. Damit ist die deutsche Linke Teil eines allgemeinen deutschen Diskurses, der immer wieder den Eindruck erweckt, die faschistische Rechte wäre wesentlich stärker als sie tatsächlich ist. Gleichzeitig bleiben die Gegenkräfte weitgehend unsichtbar und erscheinen kleiner als sie sind.

Aber die rechte Formierung schreitet ja tatsächlich voran …

2018 haben wir aber auch gesehen, dass es einen starken Widerstand gegen rechts gibt, einer, der sich im Herbst zum Glück auch mal zahlenmäßig ausgedrückt hat, als eine Viertelmillion Menschen bei der Unteilbar-Demo in Berlin auf der Straße waren. Gleichzeitig punktet die Linke gerade in unterschiedlichen Kämpfen, denken wir an den Hambacher Forst, die starken feministischen Bewegungen, die Kämpfe gegen Gentrifizierung oder den Sommer der Migration 2015. Seit letzterem gibt es eine große Unterstützung in breiten Teilen der Bevölkerung für Menschen, die Nationalgrenzen überschreiten.

In Zeiten der Krise, in denen die herrschende Ordnung, die neoliberale Hegemonie brüchig geworden ist, lässt sich dem Faschismus nicht durch bloße Verteidigung des Status quo begegnen. Die einzige Möglichkeit, antifaschistisch tätig zu sein, ist in Form eines Angriffs, der die tatsächlichen Ursachen der Misere beim Namen nennt und die Ablenkungsmanöver der Rechten nicht durchgehen lässt. Das zeigt sich ja gerade bei den Gilets Jaunes in Frankreich, der Bewegung der Gelbwesten.

Was hältst du von den Gilets Jaunes?

Ich war gerade für eine Buchvorstellung in Paris und ich habe mich mit vielen Leuten unterhalten. Ich habe mit meinem sehr bröckligen Französisch versucht, mit einem Taxifahrer zu sprechen, und ihn gefragt, wie er zu den Gilets Jaunes steht. Er sagte, das sei eine sehr gute Idee, ein sehr gutes Konzept. Er schien nicht das geringste Bedürfnis zu verspüren, sich erst mal von der Gewalt zu distanzieren, wie wir das aus dem deutschen Diskurs kennen. Darin drückt sich eine bestimmte Tradition in Frankreich aus, eine Tradition des Wissens darum, dass man den König auch mal enthaupten kann. Es ist die Erfahrung, dass der Sieg im Bereich des Möglichen liegt, dass es erfolgreich sein kann, sich gegen die Obrigkeit aufzulehnen.

Die kritischen Intellektuellen, mit denen ich in Paris gesprochen habe, haben anfangs eine kritische Distanz zu den Gilets Jaunes eingenommen, weil die Bewegung zuerst nach einer rechten Bewegung aussah. Seitdem hat sie sich aber wöchentlich oder gar täglich nach links bewegt.

Woran liegt das?

Die instrumentelle Antwort wäre, dass mit der Zeit einfach mehr Linke in die Bewegung reingegangen sind. Das stimmt, erklärt den Linksschwenk aber nicht ausreichend. Eine andere Antwort wäre: In dem Moment, in dem die Bewegung stärker wurde, hat sie auch den Mut entwickelt, nach oben zu treten. Es war einer dieser Momente, in dem eine Bewegung sich selber zutraut, es mit den Herrschenden aufzunehmen, die Macht herauszufordern. Es ist ein erkenntnisfördernder Moment, wenn Menschen auf der Straße sich trauen, dem Gegner in die Augen zu schauen. Sie begeben sich buchstäblich auf Augenhöhe. Dann sind sie nicht mehr darauf beschränkt, nach unten zu treten, nach Leuten, die noch schlechter dran sind. Es ist ein emanzipatorischer Moment. Der Mut, nach oben zu treten, ist links. Nach unten treten, ist rechts.

In deinem Buch »Beziehungsweise Revolution« analysierst du vor allem die Oktoberrevolution 1917. Was war das, Sieg oder Niederlage?

Ich finde Enzo Traversos Unterscheidung von Sieg und Erfolg sowie von Niederlage und Scheitern sehr hilfreich. Eine der grundlegenden Erfahrungen der Revolutionärinnen von 1917 war die Pariser Commune. Sie wollten die Erfahrung der Niederlage nicht noch einmal wiederholen, sich nicht noch einmal abschlachten lassen von der Bourgeoise. Hinzu kam der Verrat der Sozialdemokratie von 1914. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Impuls der Oktoberrevolution in Richtung Autoritarisierung und Militarisierung verstehen. Doch darin lag auch schon die Gefahr der Anverwandlung an den Gegner. Insofern ist 1917 einerseits ein Sieg, weil die Revolution keine Niederlage gegen den Gegner erlitt. Andererseits ist es Scheitern an den eigenen emanzipatorischen Ansprüchen, weil die Gesellschaft, die dort eigentlich geschaffen werden sollte, nicht realisiert wurde.

Immerhin konnte die Staatsmacht übernommen werden. 1968 gelang das nicht.

Den Bewegungen von ’68 ist es nirgends gelungen, siegreiche Revolutionen durchzuführen, aber trotzdem waren sie teilweise sehr erfolgreich, weil sie gravierende Veränderungen durchgesetzt haben. Auch auf ökonomischer Ebene: ’68 und folgende sind durch mächtige und siegreiche Streikbewegungen gekennzeichnet. Deren Erfolge werden aber in den kommenden Jahrzehnten wieder zurückgenommen. Etwas anders ist es auf der Ebene, die sozial oder kulturell genannt wird, bei der Transformation von Geschlechterverhältnissen, der sexuellen Befreiung oder der Zerbröckelung der alten, autoritären Institutionen etwa. Darin ist ’68 bis heute sehr erfolgreich. Allerdings wurden viele Errungenschaften später in einer feindlichen Übernahme durch den Neoliberalismus gewendet. ’68 haben die Menschen etwa gegen die Fremdbestimmung der Arbeit gekämpft. Aber sie haben nur Teilforderungen durchsetzen können. Heute dürfen viele selbst entscheiden, wann sie arbeiten, aber die Deadline setzt weiterhin das Kapital. So verkehrt sich Selbstverwaltung in Selbstausbeutung. In vielen Lebensbereichen ist Ähnliches passiert.

Können wir aus der neoliberalen Vereinnahmung von ’68 etwas lernen?

Wir müssen uns den Mut zurückerobern, über die engen Grenzen des Erlaubten hinauszugehen. Die Rechten haben die politische Provokation vereinnahmt. Sie inszenieren sich als Tabubrecherin, versuchen sagbar zu machen, was innerhalb des Diskursrahmens nicht sagbar ist. Dabei geht es ihnen explizit darum, die Errungenschaften von 1968 rückgängig zu machen. Viele Linke sehen es demgegenüber als ihre Aufgabe, die tatsächlichen Tabus zu bestätigen oder sich immer wieder fast ängstlich bei der Mehrheit rückzuversichern, ob das, was sie sagen, noch im Rahmen des Sagbaren bleibt. Bei vielen Linken scheint die Angst vor dem Shitstorm zu herrschen. Das war ’68 anders. Da ging es gerade um den Shitstorm, um die Provokation, die nach vorne geht und eine heftige Reaktion in Kauf nimmt, um etwas zu öffnen.

Womit wir wieder bei der Angst, beim fehlenden Mut zur Revolution wären. Neben der Revolution ist der Begriff der »Beziehungsweise« in deinem Buch zentral. Was meinst du damit?

Ich habe mir die Frage gestellt, worauf die Revolutionen zielten: die von 1917 eher auf Totalität, auf die Staatsmacht, um ausgehend vom Staat die Gesellschaft zu erobern. Die von 1968 rückblickend eher auf die Subjekte, aus denen sich das Ganze zusammensetzt: »Alles verändert sich, wenn du dich veränderst.« In der Gesellschaftstheorie und in der Philosophie wird das als sogenanntes Struktur-Handlung-Problem bezeichnet, in dem sich das Denken häufig verfängt. Es geht um die Frage, machen die Menschen die Strukturen, oder bestimmen die Strukturen die Menschen. Je nach Standpunkt geht es dann immer hin und her.

Ich möchte den Zweischritt verlassen und einen Blick auf etwas anderes lenken. Es geht weder um die Totalität noch um die einzelnen Subjekte, sondern um die Verhältnisse zwischen Menschen, zwischen Subjekten, zwischen Lebewesen oder zwischen Institutionen. Es geht um das Relationale, also die Beziehungen selbst, die überhaupt erst das konstituieren, was wir Gesellschaft nennen. Meine Hoffnung ist: Wir sind erfolgreicher darin, gesellschaftliche Veränderungen zu denken und zu realisieren, wenn wir klar haben, dass es nicht darum geht, Menschen umzuformen, nicht darum, den Staat zu erobern, sondern darum, die Beziehungen zu verändern. Der Begriff der Beziehungsweise erlaubt es, auch die Beziehungen zwischen Leuten in den Blick zu nehmen, die sich gar nicht persönlich kennen.

Wenn wir auf die Beziehungen blicken, müssten wir dann nicht trotzdem versuchen, den Staat zu ändern, ihn vielleicht zu übernehmen, irgendwie abzuschaffen, auf jeden Fall irgendetwas mit diesem Staat zu machen?

In der marxistisch-leninistischen Tradition gibt es die Vorstellung, dass die organisierten, bewussten Kräfte erst einmal den Staat übernehmen, dann mit seiner Hilfe die Grundlagen der Gesellschaft ändern, die es dann ermöglichen, diesen Staat überflüssig zu machen, bis er schließlich abstirbt. Wir blicken zurück auf ein 70-jähriges Experiment und stellen fest, dass das nicht so gut geklappt hat. Das lag vermutlich nicht ausschließlich an äußeren Umständen, sondern daran, dass das Konzept selbst schon problematisch war. Eine Staatsmacht hat die Tendenz, sich zu verselbstständigen und ihr eigenes Überleben dann auch zu organisieren. Wer den Staat erst einmal an der Backe hat, wird ihn so schnell nicht mehr los.

Was ist also die Alternative?

Eine Alternative ist es, den Staat einfach rechts liegen zu lassen und sein eigenes Ding zu machen. Das könnte im schlechtesten Fall aber naiv sein, weil es die repressive, militärische und polizeiliche Macht, also die organisierte Konterrevolution, einfach ignoriert.

Den Staat zu zerstören, so formuliert hingegen der Anarchist Gustav Landauer, heißt, andere Beziehungen zu knüpfen. Denn der Staat selbst ist eine bestimmte Form der Beziehung. Er ist eine bürokratische, hierarchische Beziehung, in denen Anweisungen durchgegeben und von Leute befolgt werden, die wiederum wenig Einfluss auf das Regelwerk haben. Die Frage ist, welche anderen Beziehungen lassen sich knüpfen, die dann an die Stelle dieser Staatsbeziehungen treten? In Chiapas und in Rojava gibt es radikaldemokratische Experimentierfelder, auf denen auch mit anderen Modellen der Verwaltung gearbeitet wird. Dort wird versucht, so weit es geht zu verhindern, dass das Allgemeine sich als etwas Fremdes gegenüber den Individuen verselbstständigt.

Wenn wir nicht nur in sehr kleinen Einheiten leben wollen, braucht es so etwas wie eine institutionalisierte Solidarität. Besteht aber darin nicht eine ähnliche Gefahr der Verselbstständigung und der Bürokratisierung? Mein Eindruck ist, dass die antistaatliche Linke sich etwas vormacht mit ihrer Antistaatsrhetorik.

Naja, Institution und Staat sind nicht direkt identisch. Staat ist ein spezifisches, herrschaftsförmiges Institutionsgefüge, während Institution zunächst nur eine verstetigte Praxisschlaufe bedeutet. Aber es stimmt, demokratietheoretisch gibt es hier ein Problem. Wenn Leute zusammenkommen und sich demokratisch darüber verständigen, wie sie leben wollen und sich bestimmte Regeln geben, dann wollen sie auch, dass diese Regeln eine gewisse Gültigkeit haben und nicht am nächsten Tag wieder infrage gestellt werden. In Regeln steckt immer schon die Gefahr der Verselbstständigung, die Gefahr also, dass die Regel nicht länger als selbstgewählt gewusst und erfahren wird. Einerseits haben wir das Bedürfnis nach Freiheit, nach Offenheit, nach Regellosigkeit. Andererseits haben wir das Bedürfnis nach Stabilität und Planungssicherheit. Dieser Widerspruch lässt sich nicht einfach auflösen, wir können nur versuchen, einen möglichst transparenten Umgang damit zu finden.

Die linke Wette lautet: Wir können mit diesem prinzipiellen, demokratischen Problem einen besseren Umgang finden als es unter den herrschenden Zuständen der Fall ist. Wir können einen Umgang finden, der weniger herrschaftsförmig ist, der tatsächlich demokratischer ist. Dann wüssten die Menschen, dass es ihre Regeln sind, die sie sich gemeinsam geben und auch gemeinsam wieder verändern können. Dann wäre es keine Regeln mehr, die sich in kalter Weise verselbstständigen und maximal noch einer Minderheit nutzen.

Dieses Gespräch wird in einer längeren Version auch am 15. Januar in der Jubiläumsausgabe des Onlinemagazins »kritisch lesen« zum Schwerpunkt »Revolution« erscheinen.