Der schmale Grat der Hilfe

Von Johanna Bröse und Sebastian Friedrich

Die Lebensumstände geflüchteter Menschen und deren ordnungspolitische »Bearbeitung« durch die bundesdeutschen Amtsstuben sind schon lange ein Thema von Flüchtlingsinitiativen und antirassistischen Gruppen. Die politische Agenda, mit der die Unterstützung der Flüchtlinge ins Private abgewälzt wird und die damit verbundene neoliberale Vereinnahmung der Flüchtlingshilfe erreichen derzeit allerdings ungeahnte Ausmaße. Innovative Ansätze von Privatwirtschaft, Kommunen und freien Trägern werden im Sinne einer Verbesserung der »Willkommenskultur« landauf, landab mit Auszeichnungen und Anerkennung der Politik überschüttet. Ein Blick auf zwei Beispiele solcher innovativer Ansätze aus Berlin und Süddeutschland zeigen Ambivalenzen und Problematiken der Unterstützungsstrukturen auf.

Auf dem heimischen Sofa

»Wir hoffen, dass das Zusammenleben in WGs unsere Kultur bereichert und wir merken, wie viel Vorteile das Zusammenleben birgt«, heißt es im Imagefilm der Initiative Flüchtlinge willkommen. Die Initiative versucht dem hiesigen Umgang mit Flüchtlingen etwas entgegen zu setzen, indem sie Zimmer in Wohngemeinschaften an Flüchtlinge in ganz Deutschland vermittelt. Damit wollen sie der Praxis der Massenunterkünfte sowie der damit einhergehenden Stigmatisierung entgegenwirken und eine andere Willkommenskultur etablieren, wie auf ihrer Homepage zu lesen ist. Initiator_innen sind drei junge Menschen aus Berlin, die zum Teil die Proteste der Flüchtlinge am Oranienplatz in Berlin aktiv unterstützt haben. Einer von ihnen hat bereits in der Vergangenheit eine ähnliche Initiative gestartet, die ebenso wie Flüchtlinge willkommen viel mediale Aufmerksamkeit bekam. Er gründete im Rahmen seines Kommunikationsdesign-Studiums das Projekt Pfandgeben.de und konzentriert sich laut Selbstbeschreibung seitdem auf »Soziale Innovationen und Projektentwicklung«. Das Prinzip von Pfandgeben.de ist schnell erklärt: Wer zu viel Pfandflaschen in der Wohnung rumstehen hat und diese nicht wegbringen möchte, kann sich über die Seite Handynummern von Pfandsammler_innen geben lassen, die den Flaschenpfand einsammeln.

Zeitungen, Fernseh- und Radiosendungen feiern Projekte wie Flüchtlinge willkommen derzeit als Beweis, dass jeder im Kleinen etwas tun kann gegen die derzeitigen desaströsen Zustände. Der Bundespolitik kommt dieser Ansatz gerade Recht: Seit vergangenem Jahr appelliert der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Patzelt vehement für einen »Paradigmenwechsel« in der Flüchtlingspolitik. Der Staat sei angesichts der Flüchtlingsströme sowohl finanziell als auch infrastrukturell überfordert. Nun müssten die Bürger ihrem Staat unter die Arme greifen, so Patzelt. Solange die Flüchtlinge nicht in ihre Heimat zurückkehren können und es keine anderweitigen Unterbringungsmöglichkeiten gibt, könnten diejenigen, die das wollen, kostenlos Wohnraum zur Verfügung stellen.

Win-Win im Ehrenamt

Szenewechsel: Im kleinen Schwarzwaldstädtchen St. Georgen sind seit über zwei Jahren rund 70 Asylbewerber_innen untergebracht. Der Bürgermeister hat eine Idee, um den »Irritationen« in der Bevölkerung entgegenzuwirken: Warum nicht in die Vereinsstrukturen integrieren und gemeinsam Ehrenamt machen? Das Prinzip: Sprachkurse und nettes Miteinander im Tausch gegen Arbeitskraft bei Sozialträgern und anderen Unternehmen der Region. Ein Zeitungsbericht im Südkurier über das daraus entstandene Projekt vom Juni 2015 lobt: »Zweieinhalb dicht bedruckte Seiten lang ist die Liste mit ehrenamtlichen Helfern, die den Flüchtlingen unter anderem Deutsch beibringen. Umgekehrt haben die Flüchtlinge seit 2013 satte 6.000 Stunden in der Stadt ehrenamtlich gearbeitet.« Dazu zählt etwa der Verkauf von Essen in der Mensa des Bildungszentrums, ein Theater- und Kindergartenprojekt, gemeinnützige Arbeiten in der Grünanlagenpflege sowie diverse soziale Arbeiten. Für die geleistete Arbeit kann den Asylsuchenden aus asylrechtlichen Gründen maximal ein Euro pro Stunde gezahlt werden. Die Organisator_innen sind dennoch stolz: »Sie haben so eine Freude daran.« Und »man gibt ja auch zurück«, Verbundenheit und freundschaftliche Beziehungen entstehen. Im Gespräch macht eine Mitarbeiterin deutlich: »Primär geht es nicht um die Erledigung von Arbeit, sondern um Kontakt und Miteinander.« Es handele sich eine »Win-Win-Situation«.

Allerdings um eine, die einen schalen Beigeschmack hat, denn eine andere Wahl haben die Geflüchteten dort praktisch nicht. Rechtlich ist ihnen der Weg versperrt, in einer selbstgewählten Tätigkeit mit ausreichender Entlohnung zu arbeiten. Zwar dürfen Asylsuchende seit November 2014 nach drei Monaten Aufenthalt in Deutschland theoretisch einer beruflichen Tätigkeit nachgehen. Allerdings nur unter bestimmten Bedingungen: Zunächst muss die zuständige Agentur für Arbeit prüfen, ob es nicht »bevorrechtige Arbeitnehmer« für die Stelle gibt – das sind alle anderen: Deutsche, EU-Bürger_innen und Migrant_innen mit Aufenthaltserlaubnis. Weitere Stolpersteine seitens der Behörden folgen, sodass an vielen Stellen in der Bundesrepublik Geflüchtete in prekären und illegalisierten Arbeitsverhältnissen oder – wie in St. Georgen – im Ehrenamt anzutreffen sind.

Denkt man den gewünschten Paradigmenwechsel in beiden Projekten zu Ende, offenbaren sich die möglichen verheerenden Folgen einer auf individuellem Mitleid beruhenden Flüchtlingspolitik für die Betroffenen. Bei Vorstößen wie dem vom Patzelt geht es um weit mehr als um eine vorübergehende Hilfeleistung. Es handelt sich um den Versuch der zunehmenden Neoliberalisierung der Flüchtlingspolitik: Ohne Umschweife sollen die Behörden aus ihrer Verantwortung entlassen werden, angemessen für die Unterbringung und Versorgung von Hilfesuchenden zu sorgen. So argumentierte Patzelt: »Bei akuter menschlicher Not dürfen Menschen nicht auf staatliche Aktion verweisen.« Dabei ist seit langem bekannt, dass sich Menschen zunehmend Krieg, Vertreibung und Not ausgesetzt sehen. Trotzdem wird suggeriert, der Staat sei »plötzlich« mit einem unerwarteten Problem konfrontiert. Die missliche Lage, in der sich momentan viele Geflüchtete in Deutschland wiederfinden, kommt aber nicht von ungefähr, sondern ist vielmehr Folge einer Politik, die nicht willens ist, ausreichend Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Stattdessen wird gefordert, einen staatlichen Verantwortungsbereich ins Private auszulagern.

Die Folge: Im Sinne des »Tafel«-Prinzips könnten Rechtsansprüche gestrichen werden. Schutzsuchenden würde nichts anderes übrig bleiben, als auf die Milde von Privatmenschen zu hoffen. Der Journalist Christian Jakob brachte das Problem im antirassistischen Magazin »Hinterland« kürzlich auf den Punkt: »Wer der Meinung ist, Flüchtlingspolitik könne mit dem heimischen Sofa gemacht werden, der denkt auch, es sei Sozialpolitik, wenn Obdachlose die Obdachlosenmagazine in der U-Bahn verkaufen.«

Trotz wohlmeinender und auch in der konkreten Situation notwendiger Hilfestellung offenbart sich in St. Georgen eine ähnliche Problematik. Sich hier als Flüchtling bewusst gegen die kleinstädtische Erwartungshaltung zu stellen – etwa, um nicht ehrenamtlich zu arbeiten oder nicht genügend Dankbarkeit zu zeigen – kann im Ernstfall verstärkte Stigmatisierung oder Diskriminierung für den Einzelnen, aber auch gravierende Folgen für Unterbringung oder etwa Zugangschancen zu Bildungsmöglichkeiten nach sich ziehen. Ähnlich des »Tafel«-Prinzips fügt sich so eine Flüchtlingshilfe, die abmildert, ohne zu sozialpolitischen Veränderungen aufzurufen, und die Grundleistungen de facto an Gegenleistungen koppelt reibungslos in den neoliberalen Kreislauf ein. In beiden Projekten entzieht sich der Staat der Verantwortung, bessere Infrastrukturen und Möglichkeiten für Geflüchtete zu schaffen und gibt diese in die Hände ehrenamtlicher Privatpersonen.

Das Dilemma staatlich erwünschter Solidarität

So gesehen helfen soziale Projekte und private Unterstützer_innen im Effekt staatlichen Institutionen in einer vermeintlichen Zwangslage, die Missstände auf die Schultern einzelner Engagierter auszulagern. Es wird auf die Solidarität und die Hilfsbereitschaft zahlloser Privatpersonen rekurriert, die die Not abfedern und deren Engagement regenbogenschillernd als staatlich wohlmeinend begleiteter Erfolg des »gesellschaftlichen Miteinanders« dargestellt wird. Doch was sollte Solidarität eigentlich bedeuten?

Keineswegs jedenfalls, staatliche Institutionen in einer Notlage unreflektiert behilflich zu sein. Vielmehr geht es um konkrete Unterstützung für Menschen, deren Lebensbedingungen aufgrund einer unnachgiebigen Flüchtlings- und Einwanderungspolitik miserabel sind: Die Massenunterkünfte sind überfüllt, befinden sich häufig weit weg von sozialer Infrastruktur, auch die Berichte um Misshandlungen in Flüchtlingsunterkünften etwa durch das Sicherheitspersonal häufen sich. Ähnlich verhält es sich in der ehrenamtlichen Arbeit mit und für Geflüchtete, etwa in St. Georgen: Der Wille, etwas zu tun, ist zunächst einmal begrüßenswert und die Auseinandersetzung miteinander wichtige Grundlage für Solidarität, gegen rassistische Ausgrenzung. Auch für die Geflüchteten selbst ist ihr Engagement wichtig, viele versprechen sich darüber eine längerfristige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und hoffen, dass dies auch in einer Ausbildung oder Arbeit mündet.

So gesehen wird das Dilemma deutlich: Wenn etwa die Wohnverhältnisse in zentralen Unterbringungen aufgrund politischer Entscheidungen so erbärmlich sind, dass dort kaum ein menschenwürdiges Leben möglich ist, ist kurzfristige praktische Solidarität alternativlos. Zugleich beteiligt man sich aber durch die privaten Unterbringungen und die ehrenamtlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen womöglich an der langfristigen Etablierung einer neuen Flüchtlingspolitik. Der Missstand, der für die Situation ursächlich ist, wird somit noch verstärkt.

Ein weiteres Problem: Beide Projekte verweisen darauf, dass Austausch und damit erhoffter Abbau von Vorurteilen entscheidend gegen Diskriminierung wirkt. Das stimmt nur bedingt: Eine restriktive Einwanderungspolitik, die damit verbundene gewollte Stigmatisierung einzelner Flüchtlingsgruppen, die Einteilung in erwünschter Flüchtling und unerwünschter Flüchtling sind nicht Folge von Vorurteilen, sondern bedienen sich dieser. Weil es bei strukturellem Rassismus immer darum geht, den Zugang zu Ressourcen zu regulieren, müssen Hilfs- und Solidaritätsangebote vor dem Hintergrund ökonomischer Verhältnisse und politischer Machtstrukturen überprüft werden.

Das Wissen über das Dilemma sollte nicht dazu führen, sich etwa kategorisch dagegen auszusprechen, Flüchtlinge zu Hause aufzunehmen oder in anderen Bereichen des Alltagslebens praktische Solidarität zu zeigen. Klar muss allerdings sein: Die individuelle Tat löst die strukturellen Probleme nicht, die sich aus der restriktiven Flüchtlingspolitik und der Praxis der zentralen Unterbringung ergeben.

Sicher: Die »Integration« der Geflüchteten kann nicht staatlichen Institutionen überlassen werden, sondern es ist vor allem eine gesellschaftliche Aufgabe. Dennoch: Es sind staatliche Institutionen, welche die Ressourcen dafür zur Verfügung stellen müssen. Eine umfassende Lösung kann deshalb nur politisch erzwungen werden, wenn etwa individuelle Hilfe mit kollektiven Taten verbunden wird. Die aktuelle Flüchtlingsbewegung in Deutschland zeigt, wie politischer Widerstand aussehen kann. Solidarität von unten bedeutet: neben der kurzfristigen Unterstützung gemeinsam dafür zu kämpfen, dass sich langfristig die Frage nach der privaten Unterbringung von Schutzsuchenden und der Abfederung durch Ehrenamt nicht mehr stellt.

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Erschienen in ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 607, 18.8.2015.