Es war eine lange Diskussion. Stundenlang diskutierten ein Mann um die 60 und ich in einer Kneipe in Ostdeutschland. Es ging um die DDR, die Wende – und um den Kapitalismus. Nach einer Tonne Zigaretten und ein paar Getränken zu viel kamen wir auf die einstige Schröder-Fischer-Regierung zu sprechen. Wir schienen uns zunächst einig in der Ablehnung, doch dann sagte mein Gegenüber: »Rotgrün hat uns nichts Gutes gebracht, dafür Hartz IV und Muslime.« Er wolle in seiner Kleinstadt keine Minarette und keinen rufenden Muezzin, gab er mir mit besorgter Miene zu verstehen. Es entbrannte ein Streit, in Zuge dessen mein Gesprächspartner Sympathien für PEGIDA und die AfD offenbarte. Gut möglich, dass viele derjenigen, die momentan gegen Flüchtlingsunterkünfte, Angela Merkel und für das Abendland marschieren, ähnliches über Rotgrün denken – und eine ähnliche Verbindung herstellen. Doch was hat der neoliberale Sozialstaatsabbau mit der Sichtbarkeit von Minderheiten zu tun?Von der Kritik an Rotgrün abstrahiert und von der spezifischen DDR- und Wendeerfahrung abgesehen, hilft das Buch »Die Abstiegsgesellschaft«, den Streitauslöser besser zu verstehen. Darin stellt sich der Soziologe Oliver Nachtwey die Frage, in was für einer Gesellschaft wir eigentlich leben. Seine Antwort: Trotz sinkender Arbeitslosigkeit, trotz einer florierenden Wirtschaft blicken die Menschen keineswegs optimistisch in die Zukunft. Im Gegenteil: Aus einer Gesellschaft des sozialen Aufstiegsversprechens wurde die des realen Abstiegs.
Der Krisenkapitalismus: offener – und härter
Zwar ist Deutschland einigermaßen gut aus der Krise gekommen, dennoch sinken im weltweiten Maßstab die Profitraten – seit Jahrzehnten. Und auch in Deutschland ist das »goldene Zeitalter« des Kapitalismus endgültig vorbei. Die bundesrepublikanische Nachkriegszeit war geprägt durch weitgehende Zustimmung zum demokratischen Parlamentarismus, durch eingebundene Milieus, starke Gewerkschaften und eine sehr niedrige Arbeitslosenquote. Nachtwey macht bei der Beschreibung der Nachkriegs-BRD nicht den Fehler anzunehmen, dass wirklich alles Gold war, was glänzte: Zwar habe der keynesianische Kapitalismus die ökonomische Ungleichheit zwischen den Klassen abgemildert, zugleich wurden mit dem »männlichen Ernähermodell« jedoch Ungleichheiten ausgebaut – zu Lasten von Arbeitsmigrant_innen und Frauen.
Mitte der 1970er Jahre ermattete der Kapitalismus: Die Wachstumsraten sanken, das Kapital investierte zurückhaltender – und auch der ideologische Konsens begann zu bröckeln. Zeitgleich internationalisierte sich die Produktion, das Finanzsystem wurde umstrukturiert, der Neoliberalismus begann seinen Siegeszug. Trotz aller Versuche, durch Deregulierungen und Privatisierungen neue Märkte zu erschließen, blieb das Wachstum weitgehend aus. Seit den 1970er Jahren nahm der Druck auf die Lohnarbeit kontinuierlich zu, die Löhne sanken, »Flexibilisierungen« erhöhten die Konkurrenz zwischen den Lohnarbeitenden, der Niedriglohnsektor und prekäre Beschäftigungsverhältnisse etablierten sich.
Doch: Man würde es sich zu einfach machen, die gegenwärtige Abstiegsgesellschaft schlicht als ungleicher zu kennzeichnen. Die Stellung von sogenannten Minderheiten hat sich trotz allem weiteren Nachholbedarf geändert: Migrant_innen bzw. deren Nachfahren, Frauen und Arbeiterkinder haben es, wenn es um Karrierechancen geht, zwar immer noch schwerer als weiße Kleinbürger, aber es ist in den vergangenen Jahrzehnten eine Angleichung festzustellen. Zugleich hat die ökonomische Ungleichheit insgesamt zugenommen, die Schere zwischen Arm und Reich ging weiter auseinander. Die Gleichzeitigkeit beider Tendenzen nennt Oliver Nachtwey Prozesse der regressiven Modernisierung. Diese »verknüpfen häufig gesellschaftliche Liberalisierung mit ökonomischer Deregulierung. Horizontal, zwischen Gruppen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen, zwischen den Geschlechtern und in bestimmten Bereichen sogar zwischen den Ethnien, wird die Gesellschaft gleichberechtigter und inklusiver, vertikal geht diese Gleichberechtigung mit größeren ökonomischen Ungleichheiten einher«.
Kalte Küche statt warme Stube
Die Kämpfe gegen Diskriminierung verschärften den Konkurrenzdruck im Postwachstumskapitalismus. Das Rangeln um den Aufstieg wird seit Jahrzehnten intensiver, gleichzeitig sind immer mehr Menschen von Abstieg bedroht. Weite Teile der Babyboomer-Generation, also der zwischen Mitte der 1950er und Mitte der 1960er Jahre Geborenen, konnten sich noch einigermaßen sicher sein, dass sie aufsteigen oder zumindest die soziale Position ihrer Eltern einnehmen werden. Das wärmende Gefühl in der Stube der Eltern wich einer klammen Abstiegsangst im kalten Gemeinschaftsbüro. Die Zeiten des sozial abgefederten Kapitalismus, der einen Fahrstuhl nach oben für alle in Aussicht stellte, sind endgültig vorbei. Der derzeitige flexible Kapitalismus ist auch ein Krisenkapitalismus, von dem man sich nichts mehr erhofft, sondern der einen stets mit sozialem Abstieg droht.
Soweit die Diagnose der Abstiegsgesellschaft – doch was hilft dagegen? Nachtwey beobachtet unterschiedliche Symptome des Aufbegehrens: Manche besetzen Plätze und pfeifen auf die repräsentative Demokratie, andere schließen sich zusammen, organisieren sich in neuen linken Parteien, man könnte sagen: versuchen sich an einer neosozialdemokratischen Politik in Podemos, SYRIZA und Co. Andere suchen ihr Glück in der reaktionären Volksgemeinschaft. Was allen fehlt, so Nachtwey, sei »eine Idee von einer gelingenden Zukunft«.
Oliver Nachtwey verzichtet weitgehend auf Antworten zu den großen Fragen der Abstiegsgesellschaft, das tut seiner glänzenden Gegenwartsanalyse keinen Abbruch. Nachtwey bertreibt Gesellschaftsanalyse im besten Sinne: Er beschreibt nicht nur, sondern erklärt auch die Veränderungen; er geht von den ökonomischen Produktionsverhältnissen aus, behält die Gesellschaft aber im Blick; er diskutiert eine Fülle soziologischer Fachdiskurse, verliert sich aber nicht darin; er schreibt für ein breites Publikum, ohne dabei trivial zu werden.
Die Analyse der Abstiegsgesellschaft rechtfertigt reaktionäres Aufbegehren nicht, sie hilft aber die aktuellen Entwicklungen zu verstehen. PEGIDA und AfD funktionieren auch deshalb, weil die Gaulands und Höckes, die sich den kleinen Leuten zuwenden, spiegelbildlich zur regressiven Moderne stehen: für mehr vertikale, gegen horizontale Gleichheit. Im Klartext: Sie richten sich offen gegen gesellschaftspolitisch liberale Werte und verbinden das mit dem (zumindest zur Schau gestellten) Wunsch nach mehr sozialer Sicherung, sie verbinden reaktionäre Gesellschaftspolitik mit Sozialkonservatismus.
Hinzu kommt die materielle Basis für Sexismus und Rassismus: Es reicht für die (weißen, männlichen) Abstiegsbedrohten nicht mehr aus, nur hart genug an sich zu arbeiten, auch die Konkurrenz um die guten Positionen muss weg – und wenn plötzlich auch Migrant_innen und Frauen um die besseren Plätze konkurrieren, macht es das nicht gerade einfacher.
Ob sich die erhöhte Konkurrenz real auswirkt, ist dabei nebensächlich. In der Kneipe berichtete mir mein Gesprächspartner auch von seinen Kündigungserfahrungen. Es stellte sich heraus, dass seine Jobs nicht ersetzt wurden, sondern die Firmen, bei denen er angestellt war, insolvent gegangen sind. Das Gespräch glitt dann ab – und drehte sich wieder um den Islam. Dabei ist der wahrscheinlich einzige Muslim in der Kleinstadt, in der er lebt, der Dönerverkäufer am Busbahnhof, einen rufenden Muezzin wird man dort wohl nie hören. Das überfüllte Jobcenter im Ort hingegen ist real.
Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Suhrkamp, Berlin 2016. 264 Seiten, 18,00 EUR.
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Erschienen in ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 617 / 21.6.2016.