Fast täglich brennt eine Flüchtlingsunterkunft, Bürger_innen, Neonazis und Hooligans stehen Schulter an Schulter und brüllen »Ausländer raus«, Flüchtlinge werden auf offener Straße beschimpft, bespuckt, geschlagen. Nach Sloterdijk, Sarrazin, AfD und Pegida ist momentan der militante Flügel der sich formierenden Rechten in Deutschland am Zuge. Zeitgleich unterstützen Willkommensinitiativen Geflüchtete mit Kleidung, Nahrung und Spielsachen. Als jene, die wochenlang in Ungarn für Bewegungsfreiheit kämpften, an deutschen Bahnhöfen ankamen, gingen viele von ihnen durch eine Traube klatschender Menschen. Die breite Front der Hilfsbereiten umfasst auch jene Teile des Bürgertums, das sich modernisiert, das Deutschland als Einwanderungsland akzeptiert hat. Die Hilfsbereiten entdecken aus ganz unterschiedlichen Motiven – und sei es, weil es gerade angesagt ist – so etwas wie Empathie. Auch Wirtschaftsverbände zeigen sich offen und liebäugeln mit möglichen neuen Fachkräften, nicht um dem angeblichen Mangel entgegenzuwirken, sondern um die Konkurrenz zwischen Arbeiter_innen und Angestellten zu verschärfen. Hinzu kommt: Das Image der Bundesregierung war nach dem offensichtlich gewordenen Diktat im Schuldenstreit mit der griechischen Regierung im Eimer, nun können Merkel und Co. zeigen, dass sie auch im positiv verstandenen Sinne Verantwortung übernehmen können. Es ist bereits von »Willkommenspatriotismus« die Rede.
All dies zeigt: Wir befinden uns mitten in einem offenen gesellschaftlichen Konflikt. Ein Konflikt, der unauflösbar scheint: Wie soll zwischen »Ausländer raus« und »Flüchtlinge willkommen« ein Kompromiss hergestellt werden?
Dennoch ist die aktuelle Situation offener denn je. Selten befanden sich die Gegner_innen der Bewegungsfreiheit so sehr in der Defensive. Es hieß in der Vergangenheit häufig, wenn mehr als 100.000 Flüchtlinge pro Jahr kämen, würde die Stimmung kippen, seien die »Belastungsgrenzen« erreicht. Allein im August wurde diese Zahl erreicht, und ja, die Stimmung kippt, zum großen Teil kippt sie aber in unerwartete Richtung. Die Fluchtursachen, von denen kaum die Rede ist, in den Blick zu nehmen, die Aufspaltung in erwünschte und unerwünschte Geflüchtete offensiv anzugreifen, die Rolle Deutschlands bei der Etablierung des rigiden Asylregimes zu skandalisieren sowie die Interessen der Bundesregierung und der Wirtschaftsverbände zu kritisieren, sind Möglichkeiten, den aktuellen gesellschaftlichen Konflikt zu politisieren.
*
Erschienen in ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 608, 15.9.2015.