Ich gestehe: Auch ich wollte als Linker „etwas mit Menschen machen“ und entschied mich deshalb einst für ein Studium der Sozialarbeit. Ich war der Ansicht, als Sozialarbeiter hätte ich am ehesten Möglichkeiten, die gesellschaftlichen Verhältnisse zumindest im Kleinen zu verbessern. Um Wege dafür zu finden, beschäftigte ich mich zu Beginn des Studiums mit Kritischer Sozialarbeit und wurde im Zuge dessen auf ein uraltes Buch aufmerksam, das in der Bibliothek einer kleinen Berliner Hochschule für Sozialarbeit, an der ich studierte, vor sich hin vergilbte. Der 1973 erschienene Sammelband „Sozialarbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen“ raubte mir alle Illusionen, in der Sozialen Arbeit einen geeigneten Beruf zur Verbesserung oder gar Überwindung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu finden. Es waren Sätze wie „Dem Sozialarbeiter fällt in der gegenwärtigen Gesellschaft die Rolle zu, Agent und Repräsentant des herrschenden Staates zu sein“ (S. 39) und die „Hilfeleistung der Sozialarbeit erweist sich […] als Helferdienst für die bestehende Ordnung“ (S. 204, Herv. i. O.), die sich in meinem Kopf festsetzten und die Seminare zum Beratungssetting, zum Sozialversicherungsrecht, zur Jugendhilfe oder zu Gesprächsmethoden fast unerträglich machten.
Funktionsbestimmungen
Insbesondere die beiden Beiträge des Mitherausgebers Walter Hollstein („Sozialarbeit im Kapitalismus“ und „Hilfe und Kapital“) gaben mir einige Anstöße, um die Funktion der Sozialarbeit für die kapitalistische Herrschaft zu bestimmen ? und um meine ursprüngliche Idee, sinnvolle linke Soziale Arbeit zu leisten, zu verwerfen. Mir wurde klar: Sozialarbeit ist normierend, da es ihr gemäß ihres Auftrages darum geht, „bestehende Defizite auszugleichen, Mängel zu beheben und die Klienten wieder den gültigen Normen der Gesellschaft anzupassen“ (S. 10). Mehr noch: Der Sozialarbeit kommt eine aktive Rolle zu, indem durch den Eingriff die Abweichung von der Normalität überhaupt bestimmt wird, etwa wenn festgelegt wird, was als deviantes Verhalten gilt.
Allen voran individualisiert die sozialarbeiterische Operation soziale Probleme. Das zeigt sich ? wie Marianne Meinhold in ihrem Beitrag „Zum Selbstverständnis und zur Funktion von Sozialarbeitern“ verdeutlicht ? etwa am allgegenwärtigen Slogan „Hilfe zur Selbsthilfe“, der zwar ursprünglich gegen Bevormundung von Klient_innen formuliert wurde, aber zu einem Instrument wird, „das Scheitern der Hilfsmaßnahmen dem individuellen, persönlichen Versagen des Klienten zuzuschreiben“ (S. 215), da die Aktivierung „innerer Kräfte“ im Vordergrund steht. „Äußere Kräfte“, etwa gesellschaftliche Strukturen, geraten so aus dem Blick. Eng mit der Individualisierung verwoben ist die Funktion der Befriedung:
„Sozialarbeit freilich nimmt das Moment der Revolte, welches sich in der Devianz ausdrückt, nicht auf, sondern kaschiert es durch ihren Akt von Linderung und Trost. Objektiv produzierte und nur subjektiv vermittelte Abweichung wird individuell und quasi privat behandelt anstatt Anlaß zur Veränderung ihrer Produktionsfaktoren zu geben, die so von neuem Devianz bewirken“ (S. 21).
Die Befriedung hat zwar unterschiedliche Facetten und findet durch individualisierte Hilfe sanft oder durch Kontrollmechanismen grob statt, letztlich ist Sozialarbeit allerdings eine Art Sozialpolizei, die eingreift, wenn es gefährlich wird. Zugleich hat sie eine Feuerwehrfunktion. Sie „greift ein, wenn der Klient bereits zu Schaden gekommen ist, wenn er schon auffällt, wenn er sich längst dissozial benimmt“ (S. 21, Herv. i. O.). Wenn es brennt, kommt die Sozialarbeit; die Fragen nach den Ursachen des Brandes sind zumindest nicht zentral, die Kraft wird darauf konzentriert, die Brände einigermaßen unter Kontrolle zu halten und sich zu bemühen, dass sie nicht auf andere Häuser übergreifen. Insofern kommt der Sozialarbeit eine kompensatorische Funktion zu, indem Mängel, Widersprüche und Ungerechtigkeiten auf individueller Ebene ausgeglichen werden. Damit werden die Widersprüche kaschiert, die Hilfeleistung der Sozialen Arbeit „soll alle Ungerechtigkeiten verdecken und die bestehende Gesellschaft letztendlich doch noch gerecht und fürsorgend in öffentliche Erscheinung treten lassen“ (S. 40).
In einem unmittelbar ökonomischen Sinne ist Sozialarbeit für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft zuständig, wie fast alle Beiträge deutlich machen. Hollstein unterscheidet auf Grundlage einer klassentheoretischen Überlegung in der Sphäre der Armut mehrere Schichten. Sozialarbeit kümmere sich demnach um Lohnarbeiter_innen, „die aufgrund des sozio-psychischen Drucks, der alltäglich auf sie ausgeübt wird, in Problemsituationen geraten sind, welche sie aufgrund ihres reduzierten Status nicht selbsttätig lösen können“ (S. 186). Außerdem pflegt die Sozialarbeit die industrielle Reservearmee, „damit einzelne ihrer Mitglieder bei Bedarf in den Arbeitsprozeß reintegriert werden können“ und unterstützt als drittes diejenigen materiell, „die endgültig aus dem Produktionsprozeß der Gesellschaft eliminiert wurden“ (ebd.).
Erweiterungen der Kritik
Das Buch hat allerdings noch mehr zu bieten als eine allgemeine Kritik an Sozialarbeit, was es aus meiner Sicht auch heute noch lesenswert macht. Erstens offenbart es einen Blick in eine Zeit, in der sich Sozialarbeit als Studiengang etablierte und sich eine Reihe politisierter Studierender Gedanken machte, wie durch Sozialarbeit die Verhältnisse bewegt werden könnten. Damit ist das Buch ein Zeitdokument ? und potentielle Quelle für Perspektivwechsel. So zeigt etwa der Beitrag von Michael Nowicki aus einem historisch-materialistischen Blickwinkel der Geschichte der Klassenkämpfe eindrucksvoll auf, welche Rolle die Soziale Arbeit bei der Individualisierung im Zuge der Veränderung der kapitalistischen Produktion spielt. Er geht davon aus, „daß Armenpflege, Wohlfahrt, Fürsorge und Sozialarbeit verschiedene Arten von Eingriffsmöglichkeiten der herrschenden Klasse in die jeweilige soziale Lage der Arbeiterklasse darstellen“ (S. 47). Hier ließe sich heute anschließen. Um eine fundierte Kritik an heutiger Sozialer Arbeit formulieren zu können, wäre allerdings eine Auseinandersetzung mit den veränderten Paradigmen eines „flexiblen Kapitalismus“ im Vergleich zum fordistischen Industriekapitalismus erforderlich. Hier könnte kritisch geprüft werden, ob Elemente Kritischer Sozialer Arbeit einen Einfluss darauf hatten, den Umbau von Welfare zu Workfare zu stützen. Angeknüpft werden könnte an Studien, die die Aufnahme der durch die 68er erkämpften Werte in die neoliberale Ideologie analysierten.
Zweitens liefert die im Buch in einigen Beiträgen favorisierte klassenanalytische Perspektive auch heute noch wichtige Anknüpfungspunkte für eine Kritische Soziale Arbeit. Zwar dürften – anders als manche Beiträge im Sammelband suggerieren – keineswegs alle Einsatzgebiete der Sozialen Arbeit aus dem Widerspruch Kapital-Arbeit abzuleiten sein. In der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaf kann allerdings eine klassenanalytisch orientierte Auseinandersetzung mit Sozialer Arbeit linke Stimmen von der latenten Sprachlosigkeit und manch verzweifelt erscheinenden Bezug auf die guten alten sozialdemokratisch geprägten Zeiten befreien, die in aktuellen Angeboten Kritischer Sozialer Arbeit manches Mal durchscheinen. Ansätze für eine grundsätzlichere Kritik liefern die genannten Funktionsbestimmungen im Buch, aber auch konkrete Beispiele wie im Beitrag von Henner Hess, der das Problem der Obdachlosigkeit klassentheoretisch analysiert.
Drittens zeigt etwa der Beitrag des Arbeitskreises Kritischer Sozialarbeit (AKS) die Faktoren auf, die die Sozialarbeiter_innen daran hindern, die Interessen der Klient_innen zu vertreten. Der AKS hat in den vergangenen Jahren wieder einen Zuwachs zu verzeichnen und verbindet heute wie damals Praktiker_innen, Studierende und Lehrende miteinander, was sich positiv auf die Fundierung der Analysen auswirkt. Die Autor_innen werden hier deutlich konkreter als in den meisten anderen Beiträgen und benennen die hohe Fallzahl, die Parzellierung und die amtliche Hierarchie als drei zentrale Faktoren. Damit dürften sie auch schon vor der „Ökonomisierung der Sozialarbeit“, von der erst seit etwa zwanzig Jahren die Rede ist, auch die heute alltäglichen Hindernisse für Kritische Sozialarbeiter_innen benannt haben.
Keine Illusionen
Das Buch kann auch heute angehende und tätige Sozialarbeiter_innen im besten Sinne desillusionieren. Das erscheint mir durchaus notwendig, denn ein zentrales Problem für Linke in der Sozialen Arbeit besteht aus meiner Sicht darin, dass der buchstäbliche Glaube daran, durch sozialarbeiterische Operationen die Verhältnisse zum Positiven zu wenden, mehr zerstört als ermöglicht, wenn etwa unbezahlt dutzende Überstunden gemacht werden und alle politische Energie in die Soziale Arbeit gelegt wird. Die Erfahrungen mit den in den meisten Feldern notwendigen Schranken der Veränderung, die institutionalisierte Soziale Arbeit aufgrund ihrer ideologischen und ökonomischen Funktionen hat, führen nicht selten zu Lethargie. Soziale Arbeit hingegen in erster Linie als Lohnarbeit im Kapitalismus zu begreifen und die Widersprüchlichkeit des eigenen Handelns zu erkennen, dürfte unerlässliche Grundlage für die Entwicklung linker sozialarbeiterischer Praxen sein. Dafür liefert das Buch wertvolle Anregungen, auch wenn es in erster Linie um kapitalistische Verhältnisse geht und diese kaum in Bezug gesetzt werden zu Rassismus, Körpernormierungen oder Geschlechterverhältnissen.
Nach der Lektüre des Sammelbandes verabschiedete ich mich erst einmal von der Vorstellung, etwas im Bereich der Sozialen Arbeit zu machen. Mit der erneuten Lektüre des Buches gut sechs Jahre später fundiert sich die Kritik zwar, aber ich ziehe ? vor allem angeregt durch Gespräche mit aktiven Kritischen Sozialarbeiter_innen ? andere Schlüsse. Zwar gilt auch heute noch: „Soziale Arbeit als systemsprengende Kraft kann angesichts ihres Auftrages nicht konzipiert werden“ (S. 42); allerdings muss sie deshalb nicht zwingend beiseitegelegt werden. Einerseits sind Sinn und Zweck Soziale Arbeit nicht gänzlich aus dem Kapitalverhältnis ableitbar und einige Bereiche der Sozialen Arbeit dürften demzufolge auch in einer klassenlosen Gesellschaft notwendig sein, wenngleich in völlig anderen gesellschaftlichen Verhältnissen. Diese zu erkämpfen wird andererseits nicht primär die Aufgabe einer für die Verhältnisse funktionalen Sozialen Arbeit sein, dennoch eröffnen sich durchaus Möglichkeiten, die im Sammelband an einigen (wenigen) Stellen angedeutet werden. So können sich Sozialarbeiter_innen beispielsweise für die materiellen Grundlagen zur Selbstorganisation der Klient_innen einsetzen. Das klingt zunächst recht dürftig, ist aber weitaus realistischer als davon auszugehen, durch Soziale Arbeit selbst etwas substanziell ins Wanken bringen zu können.
Walter Hollstein / Marianne Meinhold (Hg.) 1973: Sozialarbeit unter kapitalistischen Produktionsbedingungen. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main. Die Seitenangaben basieren auf der 1980 im AJZ-Verlag (Bielefeld) erschienenen 5. Auflage.
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Erschienen in kritisch-lesen.de, Nr. 33, 1.7.2013.