Zigarren für alle

Analyse: Der Freitag, 30/2018

Ludwig Erhard, der Held der bürgerlichen Geschichtsschreibung, war keiner.

Ludwig Erhard würde wohl genüsslich an seiner Zigarre ziehen, könnte er die Lobreden hören, die Politiker und Unternehmer gerade auf ihn halten. Anlässlich des 70. Jahrestages der Währungsreform von 1948, laut offizieller Geschichtsschreibung Geburtsstunde der Sozialen Marktwirtschaft, feiert das Establishment den ersten Wirtschaftsminister der Bundesrepublik. In seiner Heimatstadt Fürth in Franken wurde im Juni ein Ludwig-Erhard-Zentrum eröffnet. Es kostete rund 18 Millionen Euro – finanziert zum Großteil aus Steuergeldern. Die Aula im Bundeswirtschaftsministerium trägt neuerdings seinen Namen. Und Olaf Scholz, Peter Altmaier und Angela Merkel feierten Ludwig Erhard per Festakt als „Helden“ und beschworen die Soziale Marktwirtschaft als sein Erbe, das es nun in das „Zeitalter der Digitalisierung“ hinüberzuretten gelte.

Auch unter Linken hat Erhard Bewunderer. Sahra Wagenknecht hat sich in ihrem 2011 erschienenen Buch Freiheit statt Kapitalismus betont positiv auf Erhard bezogen. „Erhard reloaded: Wohlstand für alle, nicht irgendwann, sondern jetzt!“ lautete die Überschrift des letzten Kapitels. Links wie rechts können sich alle ihren eigenen Erhard aussuchen: Neoliberale sehen in ihm einen marktradikalen Vorkämpfer, Sozialkonservative einen Hüter der Freiheit jenseits von ungezügeltem Kapitalismus und sozialistischer Planwirtschaft – und so manche Linke wollen in ihm einen echten Ordoliberalen entdeckt haben, dem es darum ging, dem Markt vernünftige Grenzen zu setzen.

Trotz dieser unterschiedlichen Interpretationen herrscht in einem Punkt Einigkeit: Erhard sei zweifelsohne der Vater der Sozialen Marktwirtschaft und des Wirtschaftswunders, der aus schlechten Startbedingungen herausgeholt habe, was niemand für möglich gehalten hätte: Erhard als MacGyver der Nachkriegswirtschaft.

Doch das Bild ist ein schiefes, wie der Historiker Uwe Fuhrmann in seiner lesenswerten Studie Die Entstehung der „Sozialen Marktwirtschaft“ 1948/49 zeigt. Zunächst einmal: Es war nicht Erhard, der die Währungsreform initiierte, sondern die US-amerikanische Besatzungsmacht. Erhard erfuhr offiziell erst fünf Tage vorher von der anstehenden Währungsreform. Als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft der britisch-amerikanischen Zone durfte er die Entscheidung der Besatzungsmächte dem Volke lediglich verkünden. An Erhard und seinen Beratern lag es allerdings, die seit Kriegsende geltenden Preisbindungen aufzuheben, während sie den Lohnstopp beibehielten. Das hatte fatale Folgen für einen Großteil der Bevölkerung, denn in der Nachkriegswirtschaft konnte das relativ kleine Warenangebot die immense Nachfrage nicht stillen. Die Lebenshaltungskosten stiegen rasant an, die Preise für Obst, Gemüse, Eier, Kleidung und Schuhe explodierten. Die Währungsreform machte viele Menschen unter dem Strich ärmer. Die angebliche Geburtsstunde der Sozialen entpuppte sich als eine der Freien Marktwirtschaft. Während kleine Sparguthaben weitgehend ihren Wert verloren, wurden die Eigentümer der Produktionsmittel geschont – Umverteilung von unten nach oben.

Es folgten Monate des Protests, die in der deutschen Geschichtsschreibung weitgehend verschüttgegangen sind und die der Historiker Fuhrmann in seiner Studie ausgegraben hat. Bereits wenige Wochen nach der Währungsreform kam es an vielen Orten zu Unruhen: Schlägereien auf Märkten, Kartoffelschlachten, Plünderungen. Vor allem Frauen waren es, die sogenannte Käuferstreiks durchführten – durch kollektive Kaufverweigerung drängten sie die Verkäufer auf den Märkten dazu, ihre Preise zu senken. Im August demonstrierten Hunderttausende gegen Erhard – allein in Hessen sollen es an einem einzigen Tag 400.000 gewesen sein. Schließlich fand am 12. November 1948 der bisher einzige Generalstreik in Westdeutschland statt (der Freitag 26/2018).

Wirtschaftsdirektor Erhard konnte dem Druck der Straße nicht mehr standhalten und modifizierte die „Freie“ Marktwirtschaft vorsichtig. Mittels des Preisgesetzes versuchte der Verwaltungsrat, gegen Preiswucher vorzugehen. Außerdem stärkte er das Tarifsystem und die Sozialversicherungen. Allen voran half der Bevölkerung das Jedermann-Programm im Oktober 1948. Es regulierte die Preise für Textilien, Schuhe und Haushaltswaren – genau jene Artikelpreise, die Erhard vorher dereguliert hatte. Nachdem sich im Juni 1948 Erhard und die Anhänger einer möglichst freien Marktwirtschaft durchgesetzt hatten, rückten im Zuge der Monate andauernden Proteste gegen Erhard jene Kräfte ins Blickfeld, die eine sozialere Ausrichtung befürwortet hatten. Erhard erkannte die Gunst der Stunde und inszenierte sich – obwohl im Vorfeld der Währungsreform ein Verfechter einer möglichst freien Marktwirtschaft – als Vater der Sozialen Marktwirtschaft. Sich zum geeigneten Zeitpunkt ins rechte Licht zu rücken, fiel Erhard nicht schwer, organisierte er doch 1935 das erste Marketing-Seminar in Deutschland.

Von einer Sozialen Marktwirtschaft im eigentlichen Sinne der ordoliberalen Vordenker wie Alfred Müller-Armack, Leonhard Miksch und Walter Eucken war das politische Konzept einer Sozialen Marktwirtschaft, das Erhard später in seinem 1957 erschienenen Bestseller Wohlstand für alle präsentierte, aber weit entfernt. So weit, dass selbst der Erhard-Berater Miksch im Jahr 1949 erklärte, die Ordoliberalen müssten von der Regierung Adenauer abrücken, da sich das Kabinett immer mehr als eine Interessensregierung der Wirtschaft erweise.

In einer Situation, in der offen über Planwirtschaft, Wirtschaftsdemokratie, Laissez-faire-Kapitalismus und Ordoliberalismus gestritten wurde, gelang es Erhard, unter dem Label Soziale Marktwirtschaft überwiegend marktliberale Prämissen durchzusetzen. Trotz allen Entgegenkommens ab Herbst 1948 prägten vor allem marktliberale Konzepte die Wirtschaftspolitik der jungen Bundesrepublik.

Der Wirtschaftsaufschwung kam bald, allerdings sicher nicht allein wegen Erhard. Die sich abzeichnende Konkurrenz zwischen West- und Ostblock erwies sich für die westdeutsche Wirtschaft als Glücksfall: Die BRD sollte in das westliche System integriert werden. Neben der finanziellen Unterstützung der Westalliierten und dem System fixer Wechselkurse waren es die vergleichsweise guten Ausgangsbedingungen, die der deutschen Wirtschaft zugutekamen. Während des Krieges war die Industrie massiv ausgebaut worden – auch dank der Arbeitskraft der Millionen Zwangsarbeiter. Wirtschaftlich war der Mai 1945 keineswegs die „Stunde Null“.

Für das allgemeine Gedächtnis ist dies zweitrangig. Es ist ein Strukturmerkmal, dass die bürgerliche Geschichtsschreibung dem Handeln Einzelner mehr Bedeutung beimisst als schwer fassbaren ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Auch deshalb verkörpert Ludwig Erhard mehr noch als Kanzler Konrad Adenauer den typischen Nachkriegsdeutschen: gemütlich, dick, deutsch. Auch seine Karriere während der Nazi-Zeit erschien einigermaßen unverfänglich: So richtig dabei war er nicht (kein NSDAP-Mitglied), irgendwie aber doch (als Leiter des von der Reichsgruppe Industrie finanzierten Instituts für Industrieforschung).

Wirtschafts- und sozialpolitisch blieb Erhard Zeit seines Lebens ein Rechter. Er war 1951 gegen Mitbestimmung der Gewerkschaften in der Industrie, 1957 gegen die Rentenreform. Sein Kartellgesetz spickte er mit mehr als einem Dutzend Ausnahmebestimmungen – zur Freude des Kapitals; den Arbeitern rief er zu, sie sollten mit ihren Lohnforderungen maßhalten.

Die Gesellschaft wünschte sich der Hardliner Erhard als „formierte Gesellschaft“, in der Gruppen ihre spezifischen Interessen zugunsten eines allgemeinen Interesses unterordnen sollten. 1963 wurde er Kanzler, nur drei Jahre später, als es eine erste kleine Wirtschaftskrise in der BRD gab, musste Erhard gehen. Die Legendenbildung aber war zu diesem Zeitpunkt schon in vollem Gange.