Es gibt Bücher, die das Bestehende so schwer angreifen, dass es in sich zusammenstürzt und daraus etwas Neues entsteht. Einige halten das Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty für ein solches. Es ist jetzt in einer deutscher Fassung erschienen und hat die seit Anfang des Jahres laufende Diskussion um das über 800 Seiten dicke Werk in Deutschland neu angeheizt. Das Aufsehen ist beachtlich, dafür dass die Kernthese der Studie doch alles andere als außergewöhnlich ist. Piketty betrachtet das Verhältnis von Vermögen und Einkommen in den vergangenen Jahrhunderten und arbeitet heraus, dass seit den 1970er Jahren in den ehemaligen Industrienationen die Einkommen insgesamt langsamer wachsen als die Vermögen, die ihrerseits so ungleich verteilt sind wie zuletzt vor etwa 100 Jahren. Kurz gesagt, beweist Piketty, was vielfach ? wenn auch nicht in der Größenordnung ? belegt ist und selbst hartgesottene Neoliberale kaum noch leugnen können: Die Ungleichheit wächst.
Unter den Dutzenden Begleitbüchern, die parallel zur Veröffentlichung der deutschen Übersetzung erschienen sind, sticht eines besonders hervor. Der Wirtschaftsjournalist Stephan Kaufmann und der Politikwissenschaftler Ingo Stützle haben sich aus einer marxistischen Perspektive mit dem Bestseller auseinandergesetzt. Für diejenigen, die keine Zeit oder Lust haben, sich den 800 Seiten von Piketty sowie der noch umfangreicheren anschließenden Debatte en detail zu widmen, ist »Kapitalismus: Die ersten 200 Jahre« eine echte Entlastung. Auf weniger als 100 Seiten fassen die Autoren zunächst prägnant und verständlich die These des französischen Ökonomen zusammen und stellen die Mediendebatte sowie die wichtigsten der bisher vorgetragenen Kritiken vor. Dabei gehen sie auch der Frage nach, warum das Buch ein solch durchschlagender Erfolg werden konnte. Der sei nicht nur auf gutes Timing, Charisma des VWL-Newcomers und eine leicht verständliche einprägsame Formel zurückzuführen, sondern rühre vor allem aus dem Umstand, dass Piketty die bestehende Wirtschaftsform zwar angreife, aber an keiner Stelle antikapitalistisch argumentiert. Damit finde die »konstruktive Kapitalismuskritik« Anschluss an den herrschenden Krisendiskurs.
Wie systemkonform die Pikettysche Kapitalismuskritik letztlich ist, verdeutlicht eindrucksvoll das letzte Drittel des Begleitbuchs. Dort arbeiten die Autoren präzise den ideologischen Gehalt der angeblich unideologischen, nur der objektiven Wissenschaft verpflichteten Ausführungen des Starökonomen heraus.
Kaufmann und Stützle erheben zunächst den Vorwurf, Piketty zeige zwar eine zunehmende Ungleichheit auf, sei aber nicht in der Lage, diese zu erklären. Das liege vor allem daran, dass er keinen analytischen Begriff von Kapital hat, was bereits an der Gleichsetzung von Vermögen und Kapital sichtbar wird. Noch einschneidender: Piketty habe keine theoretische Konzeption von Kapitalismus. So fasst er diesen nicht als eine historische Produktionsweise mit spezifischen Eigentumsverhältnissen, sondern verallgemeinert in für bürgerliche Wissenschaft typisch ahistorischer Weise die bestehenden Formen. Damit fehlt die entscheidende begriffliche Grundlage, um die kapitalistische von der vorkapitalistischen Produktionsweise analytisch zu unterschieden und beide in Beziehung zueinander zu setzen.
Auch in Pikettys weiterer Argumentation werde deutlich, wie sehr er im neoklassischen Paradigma verhaftet ist, etwa wenn er die Verwirklichung des meritokratischen Prinzips einfordert. Kaufmann und Stützle formulieren dazu treffend: Die Idee des leistungsgerechten Einkommens »rechtfertigt Verhältnisse, in denen zwar über gerechte Löhne diskutiert wird, aber nicht über die Verfügungs- und Machtverhältnisse, die den Einkommen tatsächlich zugrunde liegen und diese regulieren«.
So bleibt gegen den Shootingstar der Wirtschaftswissenschaften letztlich einzuwenden, dass er keineswegs, wie angenommen, Ungleichheit grundlegend problematisiert, sondern letztlich auf den mit zunehmender Ungleichheit einhergehenden Legitimationsdruck abzielt. Wenn sich Leistung nicht mehr lohnt, stimmt etwas nicht mit dem gegenwärtigen Kapitalismus. Doch Piketty geht es nicht um eine Überwindung des Kapitalismus, sondern darum, diesen zu schützen. Für Kaufmann und Stützle ist Piketty deshalb nur scheinbar ein progressiver Ökonom, in Wahrheit ist er ein ganz normaler Konservativer: »Er will etwas ändern, um die gesellschaftlichen Verhältnisse zu erhalten, wie sie sind.«
Was bleibt nach alledem von Pikettys Buch? Es habe zumindest eine Debatte angestoßen, ist vielerorts auch von linker Seite zu hören. Doch auch diesen Mythos nehmen Kaufmann und Stützle auseinander. Bereits 2010 bröckelte die Hegemonie gehörig, etwa als der IWF in einem Working paper den Zusammenhang von Finanzkrise und zunehmender Ungleichheit betonte. Seit ungefähr 2008 sind die Feuilletons voll von bisweilen konservativer Softcore-Kapitalismuskritik. Auch Piketty geht letztlich nicht über Schirrmacher hinaus.
Piketty legte also keineswegs den Grundstein für Kapitalismuskritik in Zeiten des Neoliberalismus. Mehr noch: Da es ihm nicht um die Probleme geht, die viele Menschen mit dem Kapitalismus haben, sondern darum, wie der Kapitalismus angesichts der Armut gerettet werden kann, geht es ihm weder um Zerstörung noch um den Bau von etwas Neuem. Vielmehr möchte Piketty das Bestehende restaurieren.
Stephan Kaufmann/Ingo Stützle: Kapitalismus: Die ersten 200 Jahre. Thomas Pikettys »Das Kapital im 21. Jahrhundert«. Einführung, Debatte, Kritik, Reihe Kapital und Krise, Band 1. Bertz und Fischer Verlag, Berlin 2014, 112 Seiten, 7,90 EUR
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Erschienen in Junge Welt, 05.01.2015.