Von Hannah Schultes und Sebastian Friedrich
»JUNG und RADIKAL« lautete der Titel einer Fachtagung der Volkshochschule City West, die am 9. November 2012 in Berlin stattfand. Auf dem Programm stand die Auseinandersetzung mit der »rechtsextremen Szene« und »Salafisten«. »Ohne diese Phänomene unzulässig zu vermischen«, schreiben die Veranstalter_innen im Flyer der Tagung, dränge sich die Frage auf, »warum sich Jugendliche eigentlich von radikalen Gruppen und ihren Ideologien angezogen fühlen«. Die »unzulässige Vermischung« war zwar bereits in der Konzeption der Veranstaltung angelegt, bestätigte sich aber auch inhaltlich in Äußerungen der Teilnehmer des Podiumsgesprächs.
Darin wurden vermeintliche Gemeinsamkeiten ausgemacht: ein junges Alter und Misserfolg im »normalen« Leben sowie Ähnlichkeiten in der Männlichkeitsorientierung von »deutschen Rechtradikalen und türkischen deutschlandfeindlichen Jugendlichen«. Auf die Analyse von Strukturen und politischen Positionen wurde insgesamt weitgehend verzichtet. So dominierte eine individualisierende und psychologisierende Betrachtungsweise die Verhandlung des NSU. Im Unterschied dazu driftete die Auseinandersetzung mit dem Salafismus immer wieder in eine allgemeine Diskussion über »die muslimischen Jugendlichen« ab.
Die Podiumsdiskussion illustrierte im Kleinen die vorherrschenden Deutungsmuster und antimuslimischen Effekte der Debatte um den Salafismus, die ihren Höhepunkt zwischen April und Juli 2012 erlebte.1 Auf die bundesweiten Koranverteilungen durch SalafitInnen und Auseinandersetzungen zwischen Pro NRW und Anhänger-Innen des Salafismus in Bonn und Solingen reagierten die Sicherheitsbehörden mit Razzien, Vereinsverboten und Abschiebungen. Medial und politisch wurden unter anderem Hartz IV-Kürzungen für SalafitInnen und eine sechsmonatige Vorratsdatenspeicherung befürwortet.
In die Bekämpfung des »Islamismus« als sogenanntem »dritten Extremismus« fließen beträchtliche Summen. Im Rahmen des Bundesprogramms »Initiative Demokratie stärken«, bekannt auch als »Linksextremismustopf«, wurden im vergangenen Jahr von ca. 2,6 Mio. Euro immerhin ungefähr 1,6 Mio. in Projekte mit Islambezug investiert.2 Zudem beziehen die Sicherheitsbehörden vorsorglich muslimische Verbände mit ein. So existiert eine »Initiative Sicherheitspartnerschaft – Gemeinsam mit Muslimen für Sicherheit«, eine Kooperation von Sicherheitsbehörden und muslimischen Verbänden, die unter anderem im Juni 2011 einen »Präventionsgipfel« veranstaltete. Ein weiteres Projekt ist die »Beratungsstelle Radikalisierung«. Diese sorgte durch eine Plakatkampagne, die in Form von Postkarten auch an einem der NSU-Tatorte, der Keupstraße in Köln, verbreitet wurde, im August 2012 für Kritik und schließlich für den vorläufigen Rückzug von vier Verbänden aus der Kooperation. Die fiktiven Vermisstenanzeigen auf den Plakaten zeigen Fotos junger Menschen und Texte wie folgenden: »Das ist mein Bruder Hassan. Ich vermisse ihn, denn ich erkenne ihn nicht mehr. Er zieht sich immer mehr zurück und wird jeden Tag radikaler. Ich habe Angst ihn ganz zu verlieren – an religiöse Fanatiker und Terrorgruppen.«3 Diese Projekte verdeutlichen vor allem eines: »Die Muslime« sollen helfen, Radikalisierung zu bekämpfen und wachsam sein – gleichzeitig stehen sie und ihr Umfeld permanent unter Generalverdacht, da, das legt die Kampagne nahe, sich auch ihre Verwandten und Freund_innen unbemerkt radikalisieren könnten. Die Präventionsmaßnahmen unterscheiden sich von den auf weiß-deutsche »Extremisten« bezogenen zudem dahingehend, dass eine Verbindung zum Themenkomplex »Integration« hergestellt wird: So fanden zum Beispiel in Brandenburg in den Jahren 2009 bis 2011 19 Veranstaltungen im Rahmen der Reihe »Sicherheitsdialog – Integration, Radikalisierung und Islamismus« (IRIS) in Zusammenarbeit mit der Landesintegrationsbeauftragten statt. Eine Analyse von Materialien des Bundesamtes für Verfassungsschutz offenbart die politische Strategie der »Integration als Extremismusprävention«.4 Dahinter steht die Idee, mangelnde »Integration« führe zu »Extremismus« – eine Verallgemeinerung des »Extremismus«-Verdachts wird dadurch plausibel.
Vor allem im Kontext der Ausschreitungen in Bonn und Solingen wurden Salafismus und extrem rechte Gruppen in den Medien gleichgesetzt oder zumindest festgestellt, diese seien sich ähnlich. Solche entpolitisierenden Einschätzungen folgen extremismustheoretischen Annahmen und sind zu kritisieren. Herausgestellt werden sollte hingegen, dass die Anwendung der Extremismustheorie höchst unterschiedliche Effekte mit sich bringt. Das verdeutlicht nicht zuletzt der direkte Vergleich mit der extremen Rechten. Die Problematisierung als Rechtsextremismus stärkt den Eindruck, die »demokratische Mitte« sei frei von rassistischen und faschistischen Haltungen. Punktuellen Versuchen, den »Extremismus der Mitte« zu thematisieren, steht die Einschätzung entgegen, es handle sich bei diesen Einstellungen um ein Problem an den »Rändern«. Beim »Islamismus« tritt der gegenteilige Effekt ein.5 Ein randständiges Phänomen wie der Salafismus entfaltet über die Zuordnung zu einer nach vor allem neorassistischen Kriterien (Religion, »Kultur«) konstruierten Gruppe massive Konsequenzen für ebendiese: Sippenhaftung, Distanzierungszwang und Repression. Es verwundert nicht, dass es angesichts dessen einige Moscheegemeinden eher vermeiden, breite Bündnisse gegen antimuslimischen Rassismus einzugehen, in denen auch Mitglieder von muslimischen Gemeinden aktiv sind, die verdächtig erscheinen könnten. Die Diskussionen um den Salafismus war unweigerlich auch an »die Muslime« adressiert und haben antimuslimischen Rassismus gestärkt. Die Ermöglichung der NSU-Morde durch institutionellen Rassismus, wie er sich in den Ermittlungspraxen und Sicherheitsbehörden zeigt, wurde hingegen durch die Konzentration auf SalafitInnen (kurzfristig) von der Agenda verdrängt.
Der wesentliche Effekt der hohen öffentlichen Aufmerksamkeit für den Salafismus besteht dementsprechend in einer Rehabilitation des Verfassungsschutzes. Dies ergibt sich vor allem aus dem Kontext. Die Anschläge durch einen extrem Rechten in Oslo und Utøya im Juli 2011 wurden in den ersten medialen Reaktionen zwar zunächst als »islamistisch« eingestuft, dann aber in großer Überraschung als extrem rechte Tat außerhalb der »demokratischen Mitte« verortet.6 Der Täter wurde stellenweise auch als unzurechnungsfähiger »Einzeltäter« betrachtet, allerdings konnte sein antimuslimischer Rassismus nicht ignoriert werden. Seitdem im November 2011 die Morde des NSU aufgedeckt wurden, findet eine Debatte um die Verfehlungen und Vertuschungen des Verfassungsschutzes statt, im Laufe derer auch die Forderung nach dessen Abschaffung immer wieder laut wird. Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lorenz Caffier thematisierte im Verfassungsschutzbericht 2011 den beschriebenen Kontext explizit und stellte fest: »[D]as Jahr 2011 war für die Verfassungsschutzbehörden kein gewöhnliches Jahr.« Die Anschläge von Oslo und Utøya zeigten, »wie angreifbar demokratische Systeme selbst durch die Taten von fanatischen Einzeltätern« seien und im Fall des NSU sei »die Arbeitsweise und Zusammenarbeit der betroffenen Behörden ganz grundsätzlich auf den Prüfstand« gestellt. Dies dürfe jedoch »nicht den Blick auf die alltäglichen Herausforderungen durch politischen Extremismus im Lande verstellen«.7 Die beinahe wöchentlichen Warnungen vor dem Salafismus ab April 2012 bedienten ganz in diesem Sinne altbekannte Bedrohungsszenarien von »islamistischem Terror« und dethematisierten Rassismus. Die Vereinsverbote, Razzien und Abschiebungen stellten gleichzeitig symbolisch die Handlungsfähigkeit der Behörden wieder her.
Fußnoten
- 1. Vgl. dazu ausführlicher Friedrich, Sebastian / Schultes, Hannah 2012: Bedrohung Salafismus? Aktuelle Debatte in Deutschland bedient antimuslimischen Rassismus und nützt dem Verfassungsschutz. Standpunkte Papier der Rosa Luxemburg Stiftung 15/2012 (November 2012). Online: www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Standpunkte/Standpunkte_15-2012.pdf
- 2. Deutscher Bundestag: Drucksache 17/5329.
- 3. Von antimuslimischem Rassismus Betroffene wehrten sich in diesem Zusammenhang gegen den verstärkten Fokus auf »radikale Muslime«, der Rassismus unsichtbar macht: Als Antwort auf die geplante Plakatkampagne entwarfen Mitglieder des Online-Portals »MiGAZIN« ein Gegenplakat. »Das ist Enver _im_ek. Er war das erste Opfer der NSU. Wir vermissen ihn und haben Angst, dass Behörden weiteres Beweismaterial geheim halten, vernichten und die Aufklärung bewusst verhindern«, heißt es darunter (Migazin.de, 24.09.2012).
- 4. Rodatz, Matthias/ Scheuring, Jana 2011: «Integration als Extremismusprävention». Rassistische Effekte der «wehrhaften Demokratie» bei der Konstruktion eines «islamischen Extremismus», in: Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hg.): Ordnung. Macht. Extremismus – Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells. VS Verlag: Wiesbaden. S. 59–84.
- 5. Vgl. ebd., S. 166.
- 6. Wamper, Regina/ Jadtschenko, Ekaterina/Jacobsen, Marc: «Das hat doch nichts mit uns zu tun!» Die Anschläge in Norwegen in deutschsprachigen Medien, Münster 2011.
- 7. Ministerium für Inneres und Sport Mecklenburg-Vorpommern: Verfassungsschutzbericht 2011, Schwerin 2012.
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Erschienen in Antifaschistisches Infoblatt, Nr. 97, 25.1.2013.