Rechtsruck oder Polarisierung? Den Aufstieg der Rechten auf einen Begriff zu bringen, ist gar nicht so einfach

Für viele besteht kein Zweifel: Wir erleben einen deutlichen Rechtsruck. Kaum ein Artikel, kaum eine Rede, kaum ein Kneipengespräch kommt gerade ohne diese Vokabel aus. Und ja – vieles spricht für einen Rechtsruck: Die AfD steht seit Monaten in Umfragen konstant bei weit über zehn Prozent und wird aller Voraussicht nach im September in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern sowie ins Berliner Abgeordnetenhaus einziehen – und auch auf der Straße sind Rechte präsenter. Doch so richtig mag die Diagnose nicht stimmen. Ein Ruck beschreibt gemeinhin eine abrupte, stoßartig einsetzende Bewegung.

Doch so stoßartig und plötzlich sind der Aufstieg der AfD, die rechten Straßenmobilisierungserfolge und das offensive Auftreten der Rechten im Internet nicht. Denken wir an die vergangenen Jahre zurück, an die Debatten, ob der Islam zu Deutschland gehört, ob »Leistungsverweigerern« die staatliche Unterstützung entzogen werden sollte, ob Frauen sich doch lieber auf ihre »Mutterrolle« konzentrieren müssten, dann wird deutlich: Die Rechten können jetzt das Feld abernten, das die Sarrazins, Sloterdijks und Hermans jahrelang bestellt haben.

Die Mitte Juni erschienene Studie »Enthemmte Mitte« unterstützt diese Ansicht. Die sogenannten Mitte-Studien erforschen seit 2002 alle zwei Jahre »rechtsextreme Einstellungen« in Deutschland. Der Anteil derjenigen mit einer »geschlossenen rechtsextremen Einstellung« ist seit 2002 nicht gestiegen – im Gegenteil: Waren im Jahr 2002 noch 9,7 Prozent der Befragten von ihren Einstellungen als »rechtsextrem« klassifiziert, sind es im Jahr 2016 noch 5,4 Prozent. Die Abnahme rechtsextremer Einstellungen relativiert sich, da gleichzeitig die Abwertung bestimmter Gruppen – nämlich Muslime, Sinti und Roma sowie Geflüchtete – zugenommen hat. Aber zusammen genommen lässt sich auf der Ebene der Einstellungen kein plötzlicher Rechtsruck erkennen. Horst Kahrs von der Rosa Luxemburg Stiftung fasst die Ergebnisse entsprechend zusammen: »Den rechten Einstellungen folgen jetzt vermehrt auch Handlungen, z.B. Wahlentscheidungen, Demonstrationen usw.«

Nicht nur analytisch, auch politisch ist die Rede vom Rechtsruck problematisch. Sie suggeriert ein Reiz-Reaktions-Schema, nach dem Motto: Es kamen viele Flüchtlinge, dann wurden die Menschen rechts. So fällt es dann Regierungsvertreter_innen leicht, Asylrechtsverschärfungen mit Verweis auf den Aufstieg der Rechten zu begründen: Man dürfe den Rechten kein Futter geben.

Ein anderer Begriff, der gerne ins Feld geführt wird, ist: Polarisierung – auch die Mitte-Studie verwendet den Begriff mit Blick auf die »demokratischen Milieus«. Zunächst erst einmal erscheint er als sinnvolle Alternative zum Rechtsruck, schließlich macht er auch diejenigen sichtbar, die sich für Flüchtlinge und gegen Rechts einsetzen. Doch was polarisiert sich da eigentlich?

Laut den Mitte-Studien sind knapp 60 Prozent den »demokratischen Milieus« zuzurechnen. Gleichzeitig zeigen repräsentative Umfragen immer wieder, dass Einwanderung vor allem hinsichtlich der potenziellen Verwertbarkeit von Migrant_innen befürwortet wird: für den Standort, gegen den demografischen Wandel, gegen den »Facharbeitermangel«. So erleben wir momentan eher eine Polarisierung zwischen den Positionen »Einwanderung ist gut, weil sie uns ökonomisch nützt«, und »Einwanderung ist trotzdem schlecht«. Hier polarisieren sich letztlich der alte völkische Nationalismus der alten Schule und der moderne auf Verwertung setzende Standortnationalismus.

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Erschienen in ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 617 / 21.6.2016.