Schreiben gegen die Entmenschlichung: Sharon Dodua Otoo über Rassismus und den deutschen Literaturbetrieb (Interview)

Die Schwarze britische Autorin und Aktivistin Sharon Dodua Otoo gewann Anfang Juli in Klagenfurt den mit 25.000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis. Wir sprachen mit ihr über die Entwicklung des Rassismus in Deutschland und Großbritannien, den elitären Literaturbetrieb und ihr Selbstverständnis als Aktivistin und Autorin.

In vielen europäischen Ländern führen rechte Parteien in Umfragen. Auch in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren eine rechte Bewegung formiert. Leben wir in Zeiten eines Rechtsrucks?

Sharon Dodua Otoo: Ich denke nicht, dass sich etwas Grundsätzliches verändert hat. Vielmehr kommt der Rassismus, der vorher schon da war, gerade zum Vorschein. Gleichzeitig werden Perspektiven etwa von People of Color und Schwarzen Menschen ebenfalls zunehmend von weißen Menschen wahrgenommen. Nehmen wir die Berichterstattung über den Preisgewinn als Beispiel. Es hat sich einiges getan, wenn wir das vergleichen mit der Debatte vor einigen Jahren über rassistische Sprache in Kinderbüchern und das Blackfacing an deutschen Theatern. Damals wurde selbstverständlich rassistische Sprache verwendet, auch in den vermeintlich konstruktiven Beiträgen. Das ist aktuell weniger der Fall. Dass jetzt sensibler mit Sprache umgegangen wird, hat mit einer größeren Aufmerksamkeit für Themen wie Rassismus zu tun. Das ist wiederum auf den antirassistischen Aktivismus der vergangenen Jahre zurückzuführen.

Ist die rechte Formierung also eine Reaktion darauf, dass Migrantinnen, Migranten, Schwarze Menschen und People of Color in Deutschland sichtbarer werden?

In der Homöopathie gibt es den Begriff der Erstverschlimmerung. Zuerst nehmen nach Einnahme eines Präparats die Beschwerden zu, anschließend wird es aber besser. Je stärker die Erstverschlimmerung, desto besser die anschließende Heilung. So könnte es auch mit der Gesellschaft sein. Der Brexit könnte auch eine Chance sein, dass wir uns nach dem ersten Schock mit den drängenden Themen auseinandersetzen und aufhören, einfache Antworten auf schwierige Fragen zu suchen.

In einem Interview mit 3sat hast du dich sehr besorgt über das Brexit-Votum gezeigt. Aber gibt es aus linker Sicht nicht gute Argumente, die gegen die EU sprechen?

Mich erschreckt weniger, dass Großbritannien Europa jetzt verlässt. Vielmehr habe ich Sorge um die Signalwirkung, die das Votum hat. Bei der Brexit-Debatte ging es von Anfang an darum, bestimmte Menschen zu Fremden zu machen und auszuschließen. Gleichzeitig sollte eine Gemeinschaft aufrechterhalten werden, die nur aus echten Briten besteht, was auch immer das heißen soll. Seit dem Brexit erleben People of Color viel mehr Hass in Großbritannien. Die Zahl der rassistischen Angriffe hat stark zugenommen. Menschen wie ich werden vermehrt als Bedrohung wahrgenommen, unabhängig ob sie britische Staatsbürgerinnen oder Staatsbürger sind oder nicht. Die Entwicklungen sind so bedauerlich, hat doch die Gesellschaft in den vergangenen 50 Jahren so viele Fortschritte gemacht.

Gleichzeitig gewinnt mit dir erstmals eine Schwarze Autorin den Ingeborg-Bachmann-Preis. Ist das ein Indiz dafür, dass die weiße Mehrheitsgesellschaft mittlerweile mehr über Schwarze Perspektiven weiß?

Das Wort Schwarz möchte kaum jemand in den Mund nehmen, stattdessen arbeiten die Medien lieber mit meiner Identität als Britin. Es scheint irgendwie nett und lustig zu sein, dass eine Frau mit Erstsprache Englisch jetzt plötzlich auf Deutsch schreibt. Kaum jemand thematisiert meine Identität als Schwarze Frau in Deutschland. Wenn ich in den Medien vor allem als Britin wahrgenommen werde, wird weiterhin die Vorstellung von einem weißen Deutschland aufrechterhalten. Schwarze deutsche Perspektiven werden weiterhin ausgeblendet. Es gibt offensichtlich, freundlich gesagt, ein Missverständnis, was Schwarz bedeutet. Viele denken, es sei unhöflich, negativ, sogar rassistisch, den Begriff zu verwenden. Doch Schwarz mit großem S ist einfach eine politische Kategorie.

Ich fühle mich aber auch im etablierten Literaturbetrieb ernst genommen und habe den Eindruck, dass die Leute gespannt sind auf meine Inhalte. Ich habe den Eindruck, viele bemerken momentan, dass ihnen dadurch etwas entgangen ist, dass sie bestimmte Perspektiven zu wenig wahrgenommen haben. Es ist jetzt die Zeit, in der wir Türen einrennen.

Auffällig ist, dass auch das Thema Rassismus eine sehr geringe Rolle im Nachgang des Preisgewinns spielt. Wäre es dir lieber, das Thema hätte einen wichtigeren Stellenwert, oder begrüßt du die Entwicklung sogar, weil du jetzt nicht so festgelegt bist?

Weder noch. Ich dachte zunächst, es wird jetzt eine große Debatte geben, weil ich die erste Schwarze Gewinnerin bin. Ich war dann total überrascht, als diese Debatte ausblieb. Mittlerweile habe ich verstanden, dass es sehr leicht ist, über Schwarzsein in anderen Regionen, etwa in den USA, zu sprechen. In Deutschland herrscht allerdings das Wunschdenken, dass wir Rassismus hinter uns gelassen hätten.

Auf der anderen Seite fühlen sich viele Personen sehr inspiriert und gestärkt durch meinen Gewinn. Es stärkt hoffentlich auch die vielen anderen schreibenden Menschen, die sich im etablierten Literaturbetrieb nicht ausreichend repräsentiert sehen. Ich würde gerne darüber diskutieren, warum in 40 Jahren Ingeborg-Bachmann-Preis nur eine Schwarze Person den Preis gewonnen hat. Was haben wir alles verpasst? Was können wir machen, dass wir nicht noch einmal 40 Jahre warten müssen? Was ist mit all den anderen Schwarzen Menschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz? Es kann nicht sein, dass ich die beste von allen bin, die jemals etwas geschrieben haben.

Sandra Kegel, die dich nominierte, hat berichtet, du hättest den Ingeborg-Bachmann-Preis gar nicht gekannt. Du hattest bis vor kurzem relativ wenig Kontakt zur Literaturelite in Deutschland.

Ich habe sogar den Literaturbetrieb gemieden. Nach ein paar erfolglosen Versuchen, Eingang in die Szene zu finden, habe ich es aufgegeben. Dann kam es vor einigen Jahren zur Zusammenarbeit mit der Edition Assemblage in Münster, einem linken Verlag, der eigentlich gar nichts mit Literatur zu tun hat. Dort waren meine Inhalte willkommen.

Du meintest in einem Interview, du hättest vielleicht einen anderen Text eingereicht, wenn dir die anderen Texte vorher bekannt gewesen wären. Warum?

Ich habe die Geschichte komplett ohne Druck geschrieben. Eigentlich war der Text für eine andere Publikation vorgesehen. Der Auftrag damals war, einen Aufsatz darüber zu schreiben, wie Weißsein entsteht und durch unsere Handlungen hergestellt wird. Ich habe diese Aufgabe dann kreativ umgesetzt. Hätte ich den Preis vorher gekannt, hätte ich wohl eine konservativere Geschichte geschrieben und wäre weniger experimentierfreudig gewesen. Erst später habe ich mir die Texte der vergangenen Jahre angehört. Ich fand die meisten Texte sehr ernst und sehr schwer. Ich finde das schade, denn deutsche Literatur kann auch sehr lustig sein und trotzdem Tiefgang haben.

Du stellst dich gerne als Mutter, Aktivistin, Autorin und Herausgeberin vor. In vielen Gesprächen wurdest du nach dem Unterschied zwischen deinem Schreiben und deinem Aktivismus gefragt. Du hast die Unterscheidung immer zurückgewiesen.

Neulich gab es im Anschluss einer Lesung eine Wortmeldung von einem weißen deutschen Mann. Er befahl mir, mich auf meine Literatur zu konzentrieren und den Aktivismus zu vergessen. Ich frage mich, wie das gehen soll. Meine Literatur ist ein Produkt meines Wissens, meiner Erfahrungen. Im Grunde ist jede Kunst und Literatur irgendwie politisch. Alle Kulturschaffende sind Produkte ihrer jeweiligen Sozialisation und der Gesellschaft, in der sie aufgewachsen sind und leben. Durch ihre Arbeit beeinflussen die Kulturschaffenden wiederum die Gesellschaft. Sie können dabei die Verhältnisse stabilisieren – oder sie ins Wanken bringen.

Es gibt viele Möglichkeiten, gegen Unterdrückung und Diskriminierung zu kämpfen. Ich habe lange Zeit an Demos teilgenommen und Empowerment-Workshops geleitet. Dann habe ich es mit der Literatur versucht. Sie ist ein guter Ort, denn da geht es weniger schnell, weniger polarisiert zu. Wenn sich Menschen darauf einlassen wollen, haben sie die Möglichkeit, beim Lesen eine andere Perspektive einzuatmen. Literatur ist für mich eine Intervention, an den jetzigen Zuständen zu rütteln.

Du weißt, wie es ist, jahrelang als prekäre Schriftstellerin über die Runden kommen zu müssen. Würdest zu trotzdem zum Schreiben ermuntern?

Unbedingt. Dieses kapitalistische System ist darauf angelegt, dass wir gehorsam sind und einfach funktionieren. Unsere eigenen Wünsche und Träume zu erfüllen, ist eine Form des Widerstands gegen die Entmenschlichung, die wir in unserem Lohnarbeitsleben erfahren.

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Erschienen in ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 619 / 20.9.2016.