Hartz IV und der Ruf des Muezzins. Oliver Nachtweys neues Buch hilft, das reaktionäre Unbehagen der »Abstiegsgesellschaft« zu verstehen

Es war eine lange Diskussion. Stundenlang diskutierten ein Mann um die 60 und ich in einer Kneipe in Ostdeutschland. Es ging um die DDR, die Wende – und um den Kapitalismus. Nach einer Tonne Zigaretten und ein paar Getränken zu viel kamen wir auf die einstige Schröder-Fischer-Regierung zu sprechen. Wir schienen uns zunächst einig in der Ablehnung, doch dann sagte mein Gegenüber: »Rotgrün hat uns nichts Gutes gebracht, dafür Hartz IV und Muslime.« Er wolle in seiner Kleinstadt keine Minarette und keinen rufenden Muezzin, gab er mir mit besorgter Miene zu verstehen. Es entbrannte ein Streit, in Zuge dessen mein Gesprächspartner Sympathien für PEGIDA und die AfD offenbarte. Gut möglich, dass viele derjenigen, die momentan gegen Flüchtlingsunterkünfte, Angela Merkel und für das Abendland marschieren, ähnliches über Rotgrün denken – und eine ähnliche Verbindung herstellen. Doch was hat der neoliberale Sozialstaatsabbau mit der Sichtbarkeit von Minderheiten zu tun?Von der Kritik an Rotgrün abstrahiert und von der spezifischen DDR- und Wendeerfahrung abgesehen, hilft das Buch »Die Abstiegsgesellschaft«, den Streitauslöser besser zu verstehen. Darin stellt sich der Soziologe Oliver Nachtwey die Frage, in was für einer Gesellschaft wir eigentlich leben. Seine Antwort: Trotz sinkender Arbeitslosigkeit, trotz einer florierenden Wirtschaft blicken die Menschen keineswegs optimistisch in die Zukunft. Im Gegenteil: Aus einer Gesellschaft des sozialen Aufstiegsversprechens wurde die des realen Abstiegs. „Hartz IV und der Ruf des Muezzins. Oliver Nachtweys neues Buch hilft, das reaktionäre Unbehagen der »Abstiegsgesellschaft« zu verstehen“ weiterlesen

Brandgefährliche Stimmungsmache

Angesichts vermehrter Proteste gegen Flüchtlingsheime fühlen sich manche an die frühen 90er Jahre erinnert. Es war die Zeit rassistischer Pogrome und Morde. Es war die Zeit, als das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl im hohen Maße eingeschränkt wurde. Und es war die Zeit, in der auch die Medien eine unrühmliche Rolle spielten. – Ein Vergleich der Berichterstattung zum Thema Asyl Anfang der 1990er Jahre und heute.

Margret Jäger, Leiterin des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung, betonte damals in einem Gastkommentar für »Neues Deutschland« die Mitverantwortung der Medien für den sich Bahn brechenden Rassismus. Den Ausschreitungen und Gesetzesänderungen ging eine bereits Jahre andauernde negative Berichterstattung über Flüchtlinge voraus. Von »Bild« bis »Spiegel« wurden Schreckensbilder krimineller Flüchtlinge gezeichnet, die mit ihrer unüberbrückbar »fremden Kultur« die innere Sicherheit gefährdeten, schreckliche Krankheiten nach Deutschland brächten und den deutschen Sozialstaat in die Pleite trieben. Kollektive Symbole von »vollen Booten «, »Flüchtlingsströmen« und »Fluten« bauschten die reale Situation auf und legten nahe, höhere »Dämme« zu errichten. Es waren auch diese sprachlichen Bilder und Dramatisierungen, die eine Stimmung prägten, aus der heraus sich manche bemüßigt sahen, Worten Taten folgen zu lassen. Aus Schlagzeilen wurden Brandsätze ? und Gesetzestexte.

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»Die müssen weg«: Autoritäre Armuts- und Migrationspolitik im Kontext aktueller Debatten um »Armutsmigration«

Von Sebastian Friedrich und Jens Zimmermann

Seit dem 1. Januar 2014 gilt in der Europäischen Union (EU) die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für Bürger_innen der EU-Staaten Rumänien und Bulgarien. Kurz vor dem Jahreswechsel tauchte eine Beschlussvorlage für die Klausurtagung der CSU-Bundestagsabgeordneten im bayrischen Wildbad Kreuth auf, die eine Debatte um »Armutsmigration« auslöste. Die der Presse zugespielten Sätze des Papiers wurden auf der Klausurtagung dann auch im Kern beschlossen: Es gebe einen fortgesetzten Missbrauch der europäischen Freizügigkeit durch »Armutszuwanderung«, weshalb die CSU »falsche Anreize zur Zuwanderung« verringern wolle. Außerdem werde eine generelle Aussetzung des Sozialleistungsbezuges für die ersten drei Monate des Aufenthaltes in Deutschland geprüft und dem »Sozialleistungsbetrug« der Kampf angesagt. Die kurze Formel lautet: »Wer betrügt, der fliegt«. „»Die müssen weg«: Autoritäre Armuts- und Migrationspolitik im Kontext aktueller Debatten um »Armutsmigration«“ weiterlesen

Ethnisierung der Unterschicht. Rassistisches und neoliberales Denken gegen Sozialleistungen

Die rassistische Unterscheidung zwischen »brauchbaren« und »nutzlosen« Menschen war schon im Kolonialismus ein bewährtes Muster, um die Ausbeute zu steigern. Auch heutzutage wird in Deutschland eine Bewertung von MigrantInnen vorgenommen, bei der das Leistungsprinzip als Messlatte dient.

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