Auf den Sommer der Migration folgte der Herbst, auf den Rausch der Willkommensweltmeisterschaft der Kater. Nicht nur brennende Flüchtlingsunterkünfte und durch die Städte marschierende »Asylkritiker« sind Ausdruck davon, auch in die Parteienlandschaft kommt Bewegung. Die AfD rückt weiter nach rechts und befindet sich im Umfragehoch – zulasten der Unionsparteien. Dort gehen namhafte Parteirechte auf Konfrontationskurs mit Kanzlerin Merkel und versuchen dem berühmten Diktum von Franz Josef Strauß zu folgen, rechts von der Union dürfe es nur die Wand geben.
Die AfD hatten viele abgeschrieben, als sie sich im Juli dieses Jahres spaltete. Dem Zerwürfnis war ein monatelanger Machtkampf zwischen dem nationalneoliberalen Flügel um Bernd Lucke auf der einen und dem rechtskonservativen Flügel um Frauke Petry auf der anderen vorausgegangen. Dank der Unterstützung des völkischen Flügels um Björn Höcke konnte sich Petry klar durchsetzen.
Bernd Lucke verließ mit seinen Getreuen die Partei und gründete eine neue: die Allianz für Fortschritt und Aufbruch (ALFA). Die Partei hat es schwer, auf sich aufmerksam zu machen. Es fehlt ihr an der Massenbasis, der Platz »links« der AfD und rechts von Union und FDP ist zu klein. Nur etwa ein Zehntel der AfD-Mitglieder wechselte die Partei, ähnlich spärlich sieht es bei den Übertritten von Abgeordneten aus. Lediglich im Europaparlament hat es geklappt. Von sieben einstigen AfD-Abgeordneten gehören nun fünf ALFA an. Hinzu kommen drei Abgeordnete in der Bremischen Bürgerschaft. Ein Erfolg bei den anstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt ist zum jetzigen Zeitpunkt mehr als unwahrscheinlich. In aktuellen Wahlumfragen wird die Partei nicht einmal gesondert aufgeführt.
Ganz anders sieht es derzeit für die AfD aus. Würden die Landtagswahlen jetzt stattfinden, könnte die Partei wohl in alle drei Landtage einziehen. Nach der Spaltung befand sich die Partei zunächst im Umfragetief. Alle großen Wahlforschungsinstitute sahen sie zwischen drei und vier Prozent. Auch Ende August, als die Solidarität mit Geflüchteten die Öffentlichkeit prägte, gelang es der Partei nicht, sich medial zu inszenieren. Doch innerhalb kürzester Zeit stieg ihr Anteil bei der Sonntagsfrage. Aktuellen Umfragen zufolge liegt die Partei bundesweit bei sieben bis zehn Prozent.
Viele hoffen, das Umfragehoch der AfD sei nur eine Momentaufnahme, schließlich gab es in den vergangenen Jahren immer wieder auch bei anderen Parteien Ausreißer.
Politikwissenschaftler_innen und Journalist_innen zerbrechen sich angesichts dieser Konjunkturen die Köpfe. Dass sich seit 2009 fast jedes Jahr eine andere Partei im Höhenflug befand, könnte Ausdruck einer Ausdifferenzierung der Wählermilieus sein, vielleicht ist es auch ein Anzeichen für postdemokratisches Unbehagen, für gefühlte Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Insofern könnte das Comeback der AfD nur eine Episode sein.
Doch etwas ist besonders am (neuerlichen) Aufstieg der AfD. Erstmals kann eine Partei reüssieren, die allgemeinhin als rechts gilt. Noch vor einem Jahr, als die AfD bereits bei etwa sieben Prozent lag, war es noch einfacher, sich die Partei als liberalkonservative Alternative zur herrschenden Politik schönzureden. Mittlerweile dürfte niemand ernsthaft daran zweifeln, dass die AfD sich klar nach rechts bewegt hat.
Der frühere Parteivize und ehemalige Chef des Bundesverbandes der Deutschen Industrie sagte gegenüber dem WDR, die Partei sei »eine Art NPD-light« und räumte selbstkritisch ein: »Wir haben ein richtiges Monster erschaffen«. Dieses Monster organisiert, wie in Magdeburg, gemeinsam mit Pegida-Ablegern Demonstrationen oder duldet Neonazis auf ihren Veranstaltungen wie jüngst in Berlin beim Abschluss der Herbstoffensive der AfD. Die Reden des thüringischen AfD-Vorsitzenden Björn Höcke auf seinen Kundgebungen in Erfurt werden von Woche zu Woche schärfer. Seine Sympathien für den Jungkonservatismus, dem Orientierungspunkt der intellektuellen Neuen Rechten, versucht er nicht mehr zu kaschieren.
Das zentrale Feindbild der aktuellen AfD-Mobilisierung ist die Bundeskanzlerin. Diese steht aber nicht nur bei AfD-Anhänger_innen im Fokus. Jahrelang war sie eine der beliebtesten Politiker_innen im Lande, alle Krisen konnte sie unbeschadet überstehen: Finanzkrise, Eurokrise, Atomkrise, Griechenlandkrise. Jetzt sinkt ihre Beliebtheit rapide. Laut ARD-Deutschlandtrend waren im April 75 Prozent der Befragten zufrieden mit der Arbeit von Angela Merkel, mittlerweile sind es nur noch 49 Prozent. Damit liegt sie nur noch knapp vor CSU-Chef Horst Seehofer, mit dessen Arbeit im November 45 Prozent zufrieden waren, im Vergleich zu April ein Plus von satten 15 Prozent.
Just in diesem Moment trauen sich die Kritiker_innen der Kanzlerin aus der Deckung. Ganz vorne: Bundesinnenminister Thomas de Maizière und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. De Maizière galt lange Zeit als Gefolgsmann Merkels, doch spätestens Anfang Oktober wurde deutlich, dass so groß das Vertrauen nicht mehr sein kann. Merkel machte nicht den Bundesinnenminister zum Flüchtlingskoordinator, sondern Kanzleramtschef Peter Altmaier. Beobachter_innen deuteten das als Affront. Thomas de Maizière dürfte das nicht vergessen haben.
Nach wochenlangem Streit – vor allem innerhalb der Union – bemühte sich die große Koalition um Einigkeit und präsentierte am 5. November einen mühsam errungenen Kompromiss, der weitere Verschärfungen des Asylrechts vorsieht (siehe Kasten). Nun könnte wieder Ruhe einkehren, hofften viele. Entsprechend kam der Vorstoß de Maizières tags darauf überraschend. Ohne Rücksprache mit Merkel und Altmaier regte er an, den Anspruch auf Familiennachzug syrischer Flüchtlinge zu streichen, sowie die Aufenthaltsbewilligung statt wie bisher von drei Jahren auf ein Jahr zu begrenzen. Mit diesem Vorschlag steht er keineswegs alleine da. Schäuble stellte sich erstaunlich deutlich hinter die Forderung. Das Verhältnis zwischen Schäuble und Merkel gilt seit der Griechenlandkrise im Sommer als gestört. Unterstützung bekommt de Maizière auch von Horst Seehofer und den Merkel-Stellvertreter_innen Thomas Strobl und Julia Klöckner.
Nach dem denkwürdigen Wochenende legte Thomas de Maizière noch einmal nach. Am 10. November gab das Innenministerium bekannt, das Dublin-Verfahren auch für syrische Flüchtlinge wieder anzuwenden. Der Zeitpunkt ist pikant: Die Meldung erreichte die Bundestagsfraktionen, während sie ihre Fraktionssitzungen abhielten. Altmaier und Merkel waren wieder nicht informiert, auch die SPD wusste von nichts – mal wieder. Die Welt berichtete davon, dass auch Frank-Jürgen Weise, der Chef des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), der gerade in der SPD-Fraktion die Umstrukturierungen in seiner Behörde vorstellte, überrascht war, als er von der Meldung erfuhr.
Der impliziten Kampfansage Thomas de Maizières zum Trotz sprach Merkel dem Innenminister ihr Vertrauen aus. Es ist eine mittlerweile berühmt-berüchtigte Merkel-Floskel. Sie hat in den vergangenen Jahren Franz-Josef Jung, Karl-Theodor zu Guttenberg, Christian Wulff, Annette Schavan und Hans-Peter Friedrich ihr Vertrauen ausgesprochen – und sie später direkt oder indirekt entlassen. Dass dieses Schicksal auch de Maizière drohen könnte, ist gerade schwer denkbar. Erstmals seit ihrer mittlerweile zehn Jahre dauernden Kanzlerschaft muss Merkel ernsthaft um ihre Spitzenposition in der Union fürchten.
Warum eskaliert der Machtkampf gerade jetzt? Die Union steht mit dem Rücken zur Wand. Die Union verlor genau jenen Anteil in der Sonntagsfrage, den die AfD in den vergangenen Monaten gewinnen konnte. Mehr denn je geht in der Union die Angst um, ihr könnte ein ähnliches Schicksal wie der SPD mit der Linkspartei drohen. Hinzu kommt, dass diejenigen, die sich Jahre nicht getraut haben, gegen Merkel zu opponieren, die Gunst der Stunde nutzen, um sich um die Nachfolge in Stellung in bringen. Doch es geht nicht nur um Machtpositionen innerhalb der Union, sondern auch um die unterschiedliche Projekte, den Konservatismus zu restaurieren. Die Modernisierer_innen um Merkel und Altmaier haben das urbane Bürgertum in Blick, das in den vergangenen Jahrzehnten der Union der Rücken gekehrt hat. Die anderen – Schäuble und weite Teile der CSU – fokussieren das wertkonservative Spektrum, das dem gesellschaftspolitisch eher liberalen Kurs Merkels skeptisch bis ablehnend gegenübersteht. Dieser unionsinterne Widerspruch konnte angesichts der alles überstrahlenden Kanzlerin lange Zeit gedeckelt werden, jetzt – mit der zunehmenden Konkurrenz von rechts – kocht er über.
Der AfD gelingt es, den Kitt innerhalb der Union zu lockern, sie vor sich herzutreiben. Von links gibt es derzeit kaum Druck. Von der SPD, die bei allen aktuellen Entwicklungen in der Bundesregierung so tut, als gehe sie das alles nicht an, ist nichts zu erwarten. Der Opposition gelingt es derzeit nicht, entscheidend in die Debatte einzugreifen. So steht zu befürchten, dass Merkel auf den Druck von rechts aus der eigenen Partei und damit indirekt auf den Druck von der Rechtsaußen-AfD reagiert. Die CSU fährt aktuell den klarsten Rechtskurs. Zwischen sie und die Wand passt kein Blatt. Am Donnerstag vor de Maizières Vorstoß feierte die CSU in den sozialen Netzwerken die Asylrechtsverschärfung: »CSU setzt sich durch – Schärfstes Asylrecht aller Zeiten in Deutschland – Rückführungszentren für schnellere Abschiebung -Familiennachzug ausgesetzt.«
Es ist unwahrscheinlich, dass sich der aktuelle Rechtsruck in Union und AfD bald umkehrt. Im März stehen drei wichtige Landtagswahlen statt, bei denen vor allem konservative CDU-Landesverbände antreten. Die AfD-Führung hat aus dem Debakel der Eskalation mit Lucke gelernt und wird versuchen, einen neuerlichen Machtkampf zwischen den übrig gebliebenen Flügeln zu vermeiden. Schließlich wird die Flüchtlingsthematik auch in den kommenden Monaten ganz oben auf der Agenda stehen.
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Erschienen in ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 610 / 17.11.2015.