Es ist ein Jahr her, als Angela Merkel ihren Leitsatz »Wir schaffen das« formulierte. Wenige Tage später betonte sie: Es sei nicht ihr Land, »wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen«. Es war die Hochphase des Willkommenspatriotismus. Für einen kurzen Moment schien es, als habe der neue, freundliche, bunte Standortnationalismus den alten, griesgrämigen, autochthonen Nationalismus in die Schranken gewiesen.
Heute ist klar: Die Zeiten sind vorbei, in der sich die Politik rühmt, ein Zeichen für Mitmenschlichkeit gesetzt zu haben. Selbst das Argument, dass Migrant_innen für die Wirtschaft nützlich sind, zieht kaum noch. Im Laufe eines Jahres ist das Pendel zwischen von Kapitalinteressen geleitetem weltoffenen auf der einen und rassistisch-autoritären Neoliberalismus auf der anderen Seite sukzessive in Richtung von letzterem ausgeschlagen.
Doch woher kommt diese Verschiebung? Viele sehen einen entscheidenden Grund in der Präsenz der AfD: Petry, Höcke, Gauland und Co. würden die etablierten Parteien vor sich hertreiben. Auf den ersten Blick sieht es danach aus: Während die AfD Wahl um Wahl gewinnt, versucht die Union sich als Law-and-order-Beauftragte zu profilieren; eine sozialdemokratische Bundesarbeitsministerin kürzt Hartz IV für EU-Bürger_innen und fordert, die Leistungen für Asylbewerber_innen zu kürzen, aufrecht-demokratische Kulturkämpfer_innen zetteln eine Scheindebatte um ein Burka-Verbot an.
Doch stimmt der unterstellte kausale Zusammenhang überhaupt? Das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) beobachtet den Einwanderungsdiskurs seit Jahren. Das Ergebnis, das sie kürzlich im hauseigenen DISS-Journal veröffentlichten: Die Debatte um Migration und Flucht hat sich im Herbst vergangenen Jahres binnen weniger Monate entscheidend verengt. So schrieb die FAZ Mitte September 2015 in Bezug auf Merkels »Wir schaffen das« von einer »Einladung an alle Beladenen dieser Erde, in Deutschland Aufnahme zu finden« und sprach von einem drohenden »Notstandsregime«. (FAZ, 14.9.2015) Ähnliches war bereits zu diesem Zeitpunkt in allen großen Tageszeitungen zu lesen. Merkel schlug auch aus den eigenen Reihen heftiger Wind entgegen – insbesondere von der Schwesterpartei aus Bayern. Der frühere Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sprach von einer »beispiellosen politischen Fehlleistung« Merkels, der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer von einem »Fehler, der uns noch lange beschäftigen wird«. Es blieb nicht bei Worten: Bereits am 1. September 2015 eröffnete in Bayern das erste Sonderlager für »Balkan-Flüchtlinge«, die ersten Asylrechtsverschärfungen ließen nicht lange auf sich warten.
Der Diskurs verschob sich bereits zu einem Zeitpunkt, als viele noch davon ausgingen, die AfD würde nach ihrer Spaltung wenige Wochen zuvor in der Bedeutungslosigkeit versinken. Die Partei lag bundesweit bei gerade einmal drei bis vier Prozent. In Umfragen ging es für die AfD erst Mitte Oktober 2015 aufwärts – wenngleich sie damals von ihrer heutigen Stärke nur träumen konnte. Momentan, im September 2016, sehen die Umfrageinstitute sie bei 13 bis 15 Prozent, im Oktober 2015 waren es noch fünf bis acht Prozent.
Die AfD hat nach der Neustarthilfe durch die etablierte Rechte aus Medien und Politik dann geschickt nach den Themen gegriffen, die ihr auf dem Silbertablett serviert wurden. Nicht nur dank der »Flüchtlingskrise«, auch durch die sich bereits damals abzeichnende Diskussion um die Zukunft Merkels konnte sich die eigentlich ins Hintertreffen geratene AfD neu formieren. Auf das strategische Ziel »Merkel muss weg« einigten sich Wertkonservative wie völkische Rechte im vergangenen Herbst. Die momentanen Diskussionen um ein mögliches Ende der Kanzlerschaft sind Wasser auf ihre Mühlen des rechten Projekts.
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Erschienen in ak – analyse & kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 619 / 20.9.2016.