Buch: Der Aufstieg der AfD (Bertz + Fischer 2015)

Bertz+Fischer_Friedrich_Aufstieg-der-AfD_Cover Sebastian Friedrich
Der Aufstieg der AfD
Neokonservative Mobilmachung in Deutschland
Politik aktuell 1
Bertz + Fischer Verlag, Berlin
112 Seiten, 13 Abbildungen
€ 7,90 [D] / € 8,20 [A]
ISBN 978-3-86505-731-0
Erschienen am 20. Januar 2015

Die Alternative für Deutschland (AfD) hat seit ihrer Gründung im Frühjahr 2013 erstaunliche Erfolge erzielt: Sie zieht in ein Parlament nach dem anderen ein und scheint auf dem besten Weg, die politische Landschaft nachhaltig zu verändern. Wie ist der schnelle Aufstieg der AfD zu erklären? Wer sind die Akteure und was sind ihre Ziele? Welche Entwicklung hat die Partei bisher genommen und wohin steuert sie? Wer wählt und unterstützt die AfD? „Buch: Der Aufstieg der AfD (Bertz + Fischer 2015)“ weiterlesen

Empörung reicht nicht: Die Überausbeutung von Migrant_innen ist Kennzeichen eines rassistisch segmentierten Arbeitsmarkts

Von Sebastian Friedrich und Jens Zimmermann

Seit Jahren wird von beharrlich-nationalkonservativer bis flexibel-neoliberaler Seite darüber diskutiert, wie viele Migrant_innen denn nach Deutschland kämen, um auf der faulen Haut zu liegen. Das Fatale an der Diskussion: Auch manche Linke tappen in die Diskursfalle und lassen sich auf die herrschenden Koordinaten der Debatte ein, etwa wenn sie darauf verweisen, dass Migrant_innen unter dem Strich durchaus etwas »nützen«. Anstatt ebenfalls Kosten-Nutzen-Rechnungen ins Feld zu führen, sollten derartige Bilanzen besser in den Mülleimer geworfen werden. Ein Anker für einen Perspektivwechsel ist die Thematisierung von Arbeitsbedingungen überausgebeuteter Arbeitsmigrant_innen und Wanderarbeiter_innen in Deutschland.

Ein Fall aus Berlin, der vor Wochen für Aufsehen sorgte, ist hierfür exemplarisch: Der Bau des Einkaufszentrums »Mall of Berlin« wurde auch durch über Subunternehmen angestellte Arbeitskräfte aus Rumänien realisiert, die fünf Euro Stundenlohn erhalten sollten. Als selbst dieser spärliche Lohn nicht komplett bezahlt wurde, trat mit Unterstützung der FAU Berlin eine Gruppe der Arbeiter in den Streik. Der Arbeitskampf sorgte bundesweit für Aufsehen. Viele ähnliche Fälle mieser Arbeits- und Lebensbedingungen von Arbeitsmigrant_innen und Wanderarbeiter_innen sind in den vergangenen Jahren öffentlich geworden, nicht nur in der Bauwirtschaft, sondern auch im Care-Sektor, in der Fleischindustrie, in der Logistikbranche sowie in der Werftindustrie. Die Fälle sind sich sehr ähnlich. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeitsmigrant_innen sind sehr prekär, da sie kaum Arbeitsschutz genießen und durch ausbleibende Lohnzahlungen werden die Reproduktionskosten meist unter das Existenzminimum gedrückt. Die durch kämpferische Streiks, solidarische Aktionen und engagierte Journalist_innen öffentlich gemachten Skandale sind allerdings keine bedauerlichen Einzelfälle. Vielmehr sind sie Ausdruck der spezifischen Ausbeutung von Migrant_innen im rassistisch segmentieren Arbeitsmarkt. „Empörung reicht nicht: Die Überausbeutung von Migrant_innen ist Kennzeichen eines rassistisch segmentierten Arbeitsmarkts“ weiterlesen

Die Welt der Selbstoptimierer. Patrick Schreiner hat ein erhellendes Buch über die sozialen Auswirkungen neoliberaler Ideologie geschrieben

Seit den 1970er Jahren hat sich die Form des Kapitalismus in den Industriestaaten deutlich gewandelt. Die Finanzmärkte wurden entfesselt, die Wirtschaft von einem nachfrageorientierten Modell auf ein angebotsorientiertes umgestellt, die gewerkschaftlichen Rechte der Arbeiter und Angestellten eingeschränkt und unter Maßgabe der Deregulierung Privatisierungen vorangetrieben. Die Folgen sind unübersehbar: Die Ungleichheit nimmt seit den 1970er Jahren rapide zu ? sowohl innerhalb der Staaten als auch zwischen ihnen. „Die Welt der Selbstoptimierer. Patrick Schreiner hat ein erhellendes Buch über die sozialen Auswirkungen neoliberaler Ideologie geschrieben“ weiterlesen

»Nur scheinbar progressiv« (Rezension)

Es gibt Bücher, die das Bestehende so schwer angreifen, dass es in sich zusammenstürzt und daraus etwas Neues entsteht. Einige halten das Buch des französischen Ökonomen Thomas Piketty für ein solches. Es ist jetzt in einer deutscher Fassung erschienen und hat die seit Anfang des Jahres laufende Diskussion um das über 800 Seiten dicke Werk in Deutschland neu angeheizt. Das Aufsehen ist beachtlich, dafür dass die Kernthese der Studie doch alles andere als außergewöhnlich ist. Piketty betrachtet das Verhältnis von Vermögen und Einkommen in den vergangenen Jahrhunderten und arbeitet heraus, dass seit den 1970er Jahren in den ehemaligen Industrienationen die Einkommen insgesamt langsamer wachsen als die Vermögen, die ihrerseits so ungleich verteilt sind wie zuletzt vor etwa 100 Jahren. Kurz gesagt, beweist Piketty, was vielfach ? wenn auch nicht in der Größenordnung ? belegt ist und selbst hartgesottene Neoliberale kaum noch leugnen können: Die Ungleichheit wächst.

Unter den Dutzenden Begleitbüchern, die parallel zur Veröffentlichung der deutschen Übersetzung erschienen sind, sticht eines besonders hervor. Der Wirtschaftsjournalist Stephan Kaufmann und der Politikwissenschaftler Ingo Stützle haben sich aus einer marxistischen Perspektive mit dem Bestseller auseinandergesetzt. Für diejenigen, die keine Zeit oder Lust haben, sich den 800 Seiten von Piketty sowie der noch umfangreicheren anschließenden Debatte en detail zu widmen, ist »Kapitalismus: Die ersten 200 Jahre« eine echte Entlastung. Auf weniger als 100 Seiten fassen die Autoren zunächst prägnant und verständlich die These des französischen Ökonomen zusammen und stellen die Mediendebatte sowie die wichtigsten der bisher vorgetragenen Kritiken vor. Dabei gehen sie auch der Frage nach, warum das Buch ein solch durchschlagender Erfolg werden konnte. Der sei nicht nur auf gutes Timing, Charisma des VWL-Newcomers und eine leicht verständliche einprägsame Formel zurückzuführen, sondern rühre vor allem aus dem Umstand, dass Piketty die bestehende Wirtschaftsform zwar angreife, aber an keiner Stelle antikapitalistisch argumentiert. Damit finde die »konstruktive Kapitalismuskritik« Anschluss an den herrschenden Krisendiskurs.

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Und weiter geht’s (Rezension)

Schon in den 1980er, spätestens 1990er Jahren ist auch in Deutschland etwas zu Grabe getragen worden, das zuvor der Linken als Orientierung diente. Die Rede ist von der Wahrheit. Unter den Sargträgern befanden sich auch einige Poststrukturalisten, etwa Jean-François Lyotard, der in der Trauerrede das Ende der großen Erzählungen und somit das Ende der universellen Erklärungen verkündete. Er ließ keinen Zweifel daran, dass auch ein marxistischer Gesellschaftsentwurf dahinschied. Kaum war die Wahrheit unter der Erde, rankten sich wilde Spekulationen darum, welchen Charakter sie zu Lebzeiten hatte. Bereits während des Leichenschmaus’ war zu hören, die Wahrheit sei ein Tyrann gewesen, die keinen Widerspruch und keine Diskussion zuließ.

In den folgenden Jahren erlosch in weiten Teilen der Linken die Erinnerung an die Wahrheit; übrig blieb eine verzerrte Vorstellung von ihr. Die noch verliebenden Marxisten wurden verdächtigt, einem rückwärtsgewandten, allumfassenden und unumstößlichen Wahrheitsanspruch zu vertreten. Was mal als durchaus berechtigte Kritik an Unantastbarkeit und Kritiklosigkeit begann, wandelte sich zu einem neuen, kritikresistenten Dogma: Es gibt keine Wahrheit.

Doch seit einiger Zeit versuchen sich Linke, etwa Alain Badiou und Slavoj Žižek, wieder an die Wahrheit zu erinnern. In der linken Theoriedebatte wird seither wieder gestritten: um das richtige Entsinnen. Was Wahrheit aus einer materialistischen Perspektive überhaupt meint(e), bleibt indes in den Auseinandersetzungen zumeist unterbelichtet.

Die Soziologin und Philosophin Carolin Amlinger hat sich auf die Suche nach dem vergessenen Wahrheitsbegriff gemacht. Das ist nicht nur verdienstvoll, weil sie damit mehr Sachlichkeit in die Debatte bringt, sondern auch, weil der Terminus in der marxistischen Theorie selten eindeutig gefasst wurde ? im Gegensatz zu Ideologiekonzepten, zu denen es Regalkilometer an marxistischen Abhandlungen gibt. Da Ideologien, wie Amlinger ausführt, in einem dialektischen Verhältnis zur Wahrheit stehen, ist es einleuchtend, dass die jeweiligen Ideologiebegriffe entscheidende Ansatzpunkte sind, um sich an Wahrheit zu erinnern.

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Wie Rechtspopulist/innen über Arbeitslose sprechen

Trotz einiger inhaltlicher Unterschiede innerhalb rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen in Europa gibt es eine ausschlaggebende Gemeinsamkeit: Die Forschung zu Rechtspopulismus betont die übergreifende ideologische Verbindung zum Neoliberalismus (Becher 2013: 20f.). Am augenfälligsten tritt diese Verschränkung bei der Abwertung von Arbeitslosen bzw. Sozialleistungsbezieher/innen in Erscheinung, die seit Aufkommen des Rechtspopulismus zu dessen grundlegen -den programmatischen Elementen zählt.

Die symbolische Abwertung basiert auf den immer gleichen Zuschreibungen, die bedient werden: Arbeitslose säßen den ganzen Tag vor dem Fernseher, konsumierten dabei literweise Bier und kiloweise Chips, trügen selten mehr als Unterhose und Unterhemd und vernachlässigten ihre Kinder. Das alles könnten sie, so das Klischee, weil der Sozialstaat sie dazu einlade, es sich in der »sozialen Hängematte« gemütlich zu machen. Dieses Stereotyp vereinheitlicht Arbeitslose und stellt sie unter Generalverdacht, im moralischen Sinne zu Unrecht Solidarität in Form von Geld- und Sachleistungen vom Sozialstaat zu erhalten. Um sich dem Verdacht zu entziehen, müssen sich Arbeitslose als besonders fleißig und erwerbsarbeitsorientiert präsentieren ? und sich ihrerseits von den vermeintlich »unwürdigen Arbeitslosen« abgrenzen. „Wie Rechtspopulist/innen über Arbeitslose sprechen“ weiterlesen

Fortschrittliche Körperbeherrschung (Rezension)

Geht es um Sport, verdrehen viele Linke die Augen. Für sie ist Sport per se Kommerz, nationalistisch und basiere auf Konkurrenzprinzipien, die von ihnen abgelehnt werden. Gegen eine solche Sichtweise wendet sich Gabriel Kuhn schon seit einiger Zeit. Der Autor ist ein Kenner der Materie. Bereits 2011 veröffentlichte er beim US-amerikanischen Verlag PM Press das Buch »Soccer vs. the State« ein flammendes Plädoyer für den Fußball. In seinem neuen Buch »Die Linke und der Sport« räumt er mit einer Reihe von Vorurteilen über den Sport auf. Behauptungen wie Sport sei Opium fürs Volk oder ein probates Propagandamittel für die politische Rechte wären zwar nicht ganz falsch, könnten jedoch nicht auf den Sport selbst zurückgeführt werden. Statt dessen müssten die Verhältnisse in den Blick genommen werden, in denen er ausgeübt wird.

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»Die Muslime« gibt es nicht: Wer »den Islam« kritisiert, stellt die falschen Fragen

Von Hannah Schultes und Sebastian Friedrich

Christian Baron schrieb am 29. Oktober an dieser Stelle über »das linke Islam-Tabu«. Sein Beitrag lässt einen mit vielen Fragezeichen zurück. Kann von einem linken Islam-Tabu die Rede sein, wenn doch seit etwa 15 Jahren innerhalb der Linken heftig darum gestritten wird, wie sich die Linke in Deutschland zum Islam verhalten soll? Hieß etwa die Beschneidungsdebatte nicht deshalb so, weil es sich um eine gesamtgesellschaftlich und auch innerhalb der Linken kontrovers geführte Auseinandersetzung handelte – oder war das alles Schein und in Wahrheit handelte es sich um einen Beschneidungskonsens? Ist es tatsächlich die Kritik an antimuslimischem Rassismus, der den strukturellen Rassismus stützt – oder ist es nicht viel mehr der strukturelle Rassismus, gerichtet gegen vermeintliche oder tatsächliche Muslime, der die antirassistische Kritik an ihm notwendig gemacht hat? Warum soll in erster Linie der Islam in Deutschland Objekt einer linken Religionskritik sein – angesichts der kulturellen Vorherrschaft des Christentums, jener Religion, die nebenbei ganz offiziell staatlich subventioniert wird?

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Der angepasste Nachwuchs

Pünktlich zu Semesterbeginn ist eine Diskussion um die prekären Arbeitsbedingungen junger Nachwuchswissenschaftler entfacht worden. Einschließlich Vorbereitung und Nachbereitung arbeiten Lehrbeauftragte häufig für deutlich weniger als fünf Euro die Stunde. Eine Aussicht auf Besserung innerhalb des Wissenschaftsbetriebs haben wenige, wie der Wissenschaftsrat im Juli feststellte. Während die Zahl der Studierenden seit Jahren stark ansteige, wachse die Zahl neuer Professorenstellen nur sehr langsam, so die Kritik.

Es ist zudem nicht lohnend, es sich im akademischen Mittelbau gemütlich zu machen. Mehr als 80 Prozent der wissenschaftlichen und künstlerischen Mitarbeiter an deutschen Universitäten haben laut Wissenschaftsrat eine befristete Stelle, davon ist die Hälfte auf weniger als ein Jahr befristet. Noch prekärer als im Zentrum des akademischen Mittelbaus ist die Situation vor allem an Hochschulen für freie Lehrbeauftragte, die immer von Semester zu Semester für einzelne Lehraufträge berufen werden und sich als Honorarkräfte selbst versichern müssen, keinen Kündigungsschutz genießen und weder Anspruch auf Urlaub noch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall haben.

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Die Gretchenfrage der Union

Die jüngsten Wahlerfolge der Alternative für Deutschland (AfD) lösten im bürgerlichen Lager eine Diskussion um den geeigneten Umgang mit der neuen Partei aus. Die meisten hegemonialen Tageszeitungen stehen der vermeintlichen Alternative verhalten bis ablehnend gegenüber. Selbst die konservative und marktliberale Tageszeitung Die Welt sowie das Boulevard-Blatt BILD beobachten die AfD argwöhnisch. Auch im durcheinandergewirbelten Parteienspektrum ist die AfD derzeit Topthema. Vor allem in der Union wird seit Monaten über den richtigen Kurs gegenüber der Partei um Lucke und Co. gerungen. „Die Gretchenfrage der Union“ weiterlesen

Brandgefährliche Stimmungsmache

Angesichts vermehrter Proteste gegen Flüchtlingsheime fühlen sich manche an die frühen 90er Jahre erinnert. Es war die Zeit rassistischer Pogrome und Morde. Es war die Zeit, als das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl im hohen Maße eingeschränkt wurde. Und es war die Zeit, in der auch die Medien eine unrühmliche Rolle spielten. – Ein Vergleich der Berichterstattung zum Thema Asyl Anfang der 1990er Jahre und heute.

Margret Jäger, Leiterin des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung, betonte damals in einem Gastkommentar für »Neues Deutschland« die Mitverantwortung der Medien für den sich Bahn brechenden Rassismus. Den Ausschreitungen und Gesetzesänderungen ging eine bereits Jahre andauernde negative Berichterstattung über Flüchtlinge voraus. Von »Bild« bis »Spiegel« wurden Schreckensbilder krimineller Flüchtlinge gezeichnet, die mit ihrer unüberbrückbar »fremden Kultur« die innere Sicherheit gefährdeten, schreckliche Krankheiten nach Deutschland brächten und den deutschen Sozialstaat in die Pleite trieben. Kollektive Symbole von »vollen Booten «, »Flüchtlingsströmen« und »Fluten« bauschten die reale Situation auf und legten nahe, höhere »Dämme« zu errichten. Es waren auch diese sprachlichen Bilder und Dramatisierungen, die eine Stimmung prägten, aus der heraus sich manche bemüßigt sahen, Worten Taten folgen zu lassen. Aus Schlagzeilen wurden Brandsätze ? und Gesetzestexte.

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Gemein, gefährlich, gesetzlos: Berlin-Neukölln im Spiegel der Medien

Trotz massiver Mieterhöhungen, unkontrollierter Ausbreitung einer einkommens- und interessensstarken alternativen Mittelkasse, trotz unerhört boomendem Immobilienmarkt und schrecklich innovativer Zwischennutzunsagenturen mit all ihren negativen Begleiterscheinungen, kurz gesagt: trotz dieser und vielen weiteren alarmierenden Veränderungen wird Neukölln von Seiten der überregionalen, reißerischen Medien auf die öffentliche Bühne gezerrt, um die angebliche Existenz gefährlicher »Parallelgesellschaften« und einer außer Kontrolle geratenen »Unterschicht« zu beweisen.

Neukölln ist nach wie vor repräsentativer und territorialer Bezugspunkt, um die Vorstellungen von Terrorgefahr, Kriminalität, Angriffen auf Freiheitsrechte, Integrationsverweigerung und Faulheit zu veranschaulichen. Gleichzeitig wirkt der Neukölln-Diskurs zurück auf diese Themen, indem durch die vermeintliche Sichtbarkeit eher abstrakte Problemdeutungen veranschaulicht werden. Neukölln ist somit sichtbarer Beweis und zugleich stichhaltiges Indiz für einen gesellschaftlichen Diskurs, der (Post-) Migranten und arme Menschen zum Problem erklärt. Berlin-Neukölln ist Ausgangspunkt und Ergebnis für alles gesellschaftlich Bedrückende, Bedenkliche und Bedrohliche. Grund genug, sich die Fragen zu stellen, wann die Karriere von Neukölln als »Problembezirk« begann und was hinter der wirkmächtigen Erzählung von »Neukölln als Problem« steckt.

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Umgruppierungen im rechten Spektrum

Am 31. August zog die Alternative für Deutschland (AfD) erstmals in ein Landesparlament ein. Das Parteienspektrum in Deutschland wird durcheinandergewirbelt. Dass die AfD bald Teil des Establishments ist, scheint nur noch eine Frage der Zeit. Linke stellt das vor neue Aufgaben.

9,7 Prozent bei der Landtagswahl in Sachsen: Die AfD kann sich zu Recht als strahlende Wahlsiegerin feiern. In manchem Kommentar wurde dagegen ein Zusammenhang konstruiert zwischen ihrem Erfolg und dem Ferienende. So maßregelte SPD-Chef Sigmar Gabriel den sächsischen CDU-Ministerpräsidenten in bester Oberstudienratsmanier: Stanislaw Tillich sei für die geringe Wahlbeteiligung verantwortlich, weil er den Wahltermin auf den letzten Ferientag gelegt habe. Er habe darauf gesetzt, dass viele WählerInnen noch im Urlaub seien und damit NPD und AfD in die Hände gespielt. Eine solche »Dummheit« dürfe sich nicht wiederholen. Nun ist zum einen fraglich, ob die Schulkinder samt ihrer wahlberechtigten Eltern wirklich erst Sonntagnacht aus dem Urlaub kamen. Zum anderen ist es offensichtlich, dass der AfD-Erfolg auf mehr zurückzuführen ist. Auch die zunehmende Marginalisierung der FDP und das Ergebnis der NPD sind einen genaueren Blick wert.

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Ungleichheiten im Wandel (Rezension)

Nicht erst im Zuge der Auseinandersetzungen um die Krise in Europa avancierte soziale Ungleichheit zum zentralen gesellschaftspolitischen Thema in Deutschland. Bereits die Umsetzung der rot-grünen Agenda 2010 und der Umbau zum neosozialen Sozialstaat gingen einher mit einer starken medialen Auseinandersetzung um Armut und Unsicherheit. Während im Sommer 2004 Hunderttausende gegen die Hartz-Reformen demonstrierten, nahm die Debatte um »Neue Unterschicht« an Fahrt auf. Es war das Jahr, in dem mit »Generation Reform« des konservativen Philosophen Paul Nolte das Opus Magnum des Unterschichtsdiskurses erschien und Forderungen in Richtung der sozial Marginalisierten gestellt wurden, sich an der »bürgerlichen Leitkultur« zu orientieren. Damit wurde ein Grundstein für die Verlagerung der Gründe sozialer Ungleichheit auf eine vermeintliche Kultur der Leistungsverweigerung gelegt.

Seitdem erschienen einige umfangreiche Arbeiten zur Kulturalisierung und Biologisierung des Sozialen, die aber in erster Linie die Negativzuschreibungen von armen Menschen und unsicher Beschäftigten kritisch in den Blick nahmen. Doch es ging und geht keinesfalls nur um eine »faule Unterschicht«, sondern spätestens seit 2006 geraten auch hochqualifizierte Akademiker_innen, die sich von Praktikum zu Praktikum hangeln, ins mediale Rampenlicht. Es lässt sich vermuten, dass Hochqualifizierte und Niedrigqualifizierte, Langzeitarbeitslose und junge Akademiker_innen ausgesprochen unterschiedlich dargestellt werden ? und den Repräsentationen uneinheitliche Deutungen für Ursachen und Bewältigungsmöglichkeiten sozialer Ungleichheiten zu Grunde liegen. Sollte dem so sein, ließe sich der Diskurs als Feld bestimmen, auf dem sich ein Deutungskampf um die Legitimation und Problematisierung sozialer Ungleichheit abspielt.

Genau hier setzt die 2013 erschienene Dissertation der Soziologin Magdalena Freudenschuss an. Sie untersucht in »Prekär ist wer« den öffentlichen Prekarisierungsdiskurs als Arena sozialer Kämpfe und fragt, wie anhand der diskursiven Auseinandersetzung um die Deutungshoheit über Prekarisierung/Prekarität bzw. prekäre/prekarisierte Arbeit die soziale Wirklichkeit über soziale Ungleichheit im Kontext des Wandels entworfen wird. Den öffentlichen bzw. medialen Diskurs entwirft sie als »zentrale[n] Raum hegemonialisierender Prozesse und damit auch sozialer Konflikte« (13). Dementsprechend geht es ihr nicht um eine bloße Darstellung des Diskurses, sondern um die Bruchlinien und Widersprüchlichkeiten, die Schlüssel für die Frage nach der Legitimation, Festigung, Kritikmöglichkeit und Herausforderung bestehender sozialer Ungleichheiten sein können. Das Aufkommen der medialen Auseinandersetzung mit Prekarität bietet sich zur Analyse der Deutung sozialer Veränderungen bestens an, da mit Aufkommen der Prekaritäts-Begriffe im öffentlichen Diskurs im Jahr 2006 bisweilen sehr unterschiedliche Phänomene sozialer Ungleichheit gefasst wurden.

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Ideologische Klammer (Rezension)

Selbst der Urahn des Neoliberalismus, Friedrich August von Hayek, wußte genau, daß individueller Einsatz keineswegs zwangsläufig Früchte trägt. Bemerkenswert deutlich beschreibt Hayek im zweiten Band seines Hauptwerks »Recht, Gesetzgebung und Freiheit« (1979) das Dilemma, »bis zu welchem Ausmaß wir in jungen Menschen den Glauben bestärken sollten, daß sie Erfolg haben, wenn sie es wirklich versuchen, oder eher betonen sollten, daß unvermeidlich einige, die es nicht verdienen, Erfolg haben und einige, die ihn verdienten, scheitern werden«. Zur Leistungsideologie ist somit alles gesagt, könnte man meinen. Doch trotz ihrer offensichtlichen Defizite hält sie sich beständig und funktioniert als ideologische Klammer, die die Klassengesellschaft zusammenhält. Mit dieser Klammerfunktion hat sich Lars Distelhorst in dem gerade erschienenen Essay »Leistung. Das Endstadium der Ideologie« auseinandergesetzt.

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Köpfe tätschelt man von oben

Fußball ist in Deutschland nicht einfach nur Fußball. Das »Wunder von Bern« 1954 legte den Grundstein für den deutschen Nationalmythos der Nachkriegszeit, schließlich war man endlich wieder wer. Die WM 2006 war dann die Reifeprüfung für einen entspannten Umgang mit der Nation. Noch konnte dieser entkrampfte Nationalismus aber seine volle Kraft nicht entfalten, denn die deutsche Wirtschaft war längst noch nicht so weit »reformiert« wie erwünscht. Anders im Jahr 2014, in dem die goldene Generation endlich den Titel geholt und damit das Sommermärchen 2006 vollendet hat ? und schon wird fleißig an einem neuen Nationalmythos gearbeitet.

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Hoffnung aus dem Süden

Gut 400 Millionen Menschen waren Ende Mai 2014 dazu aufgerufen, ein neues Europaparlament zu wählen. Rechte Parteien konnten zum Teil erhebliche Zuwächse verzeichnen. Vor dem Hintergrund der Krisen in den letzten Jahren scheint das Ergebnis die Annahme zu bestätigen, ökonomische und soziale Krisen begünstigten nationalistische und reaktionäre Kräfte. Ein genauerer Blick auf die Wahlergebnisse in Europa und speziell in Deutschland offenbart ein differenzierteres Bild. In den südeuropäischen Ländern, wo die Krise bisher die tiefsten Spuren hinterlassen hat, konnte die Rechte kaum profitieren. Ausgenommen von Griechenland – hier holte die neofaschistische Goldene Morgenröte 9,3 Prozent – gewannen rechte Parteien in den »Krisenländern« im Vergleich zu den Wahlen vor fünf Jahren keine Stimmen hinzu. In Portugal und Spanien bleiben offen rechte Parteien marginal und schicken auch weiterhin keine Abgeordneten ins Parlament.

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»Die müssen weg«: Autoritäre Armuts- und Migrationspolitik im Kontext aktueller Debatten um »Armutsmigration«

Von Sebastian Friedrich und Jens Zimmermann

Seit dem 1. Januar 2014 gilt in der Europäischen Union (EU) die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für Bürger_innen der EU-Staaten Rumänien und Bulgarien. Kurz vor dem Jahreswechsel tauchte eine Beschlussvorlage für die Klausurtagung der CSU-Bundestagsabgeordneten im bayrischen Wildbad Kreuth auf, die eine Debatte um »Armutsmigration« auslöste. Die der Presse zugespielten Sätze des Papiers wurden auf der Klausurtagung dann auch im Kern beschlossen: Es gebe einen fortgesetzten Missbrauch der europäischen Freizügigkeit durch »Armutszuwanderung«, weshalb die CSU »falsche Anreize zur Zuwanderung« verringern wolle. Außerdem werde eine generelle Aussetzung des Sozialleistungsbezuges für die ersten drei Monate des Aufenthaltes in Deutschland geprüft und dem »Sozialleistungsbetrug« der Kampf angesagt. Die kurze Formel lautet: »Wer betrügt, der fliegt«. „»Die müssen weg«: Autoritäre Armuts- und Migrationspolitik im Kontext aktueller Debatten um »Armutsmigration«“ weiterlesen

Der Geist von Wildbad Kreuth: Die CSU blinkt rechts und hetzt gegen »Armutsmigration«

Kurz vor dem Jahreswechsel tauchte eine Beschlussvorlage für die Klausurtagung der CSU-Bundestagsabgeordneten im bayrischen Wildbad Kreuth auf, die eine Debatte um sogenannte Armutsmigration auslöste. Seit dem 1. Januar 2014 gilt in der Europäischen Union (EU) die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit, auch für BürgerInnen aus Rumänien und Bulgarien. Die der Presse zugespielten Sätze des CSU-Papiers wurden auf der Klausurtagung dann auch im Kern beschlossen: Es gebe einen fortgesetzten Missbrauch der europäischen Freizügigkeit durch »Armutszuwanderung«, weshalb die CSU »falsche Anreize zur Zuwanderung« verringern wolle. Außerdem werde eine generelle Aussetzung des Sozialleistungsbezuges für die ersten drei Monate des Aufenthaltes in Deutschland geprüft und dem »Sozialleistungsbetrug« der Kampf angesagt. Die kurze Formel lautet: »Wer betrügt, der fliegt«.

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